Texte Türkei 1 | Ostanatolien, E80/AH1, Ende Juni - Anfang Juli 2010
„So muss es sein!“
„Wie?“
„So halt.“
Wir sitzen unter einem Baum.
Der Schatten lässt die anatolische Mittagshitze erträglicher werden. Luft strömt, vom türkisfarbenen Bach angenehm gekühlt, über die Kiesel zu uns herüber. Weissbrot, Tomaten, Zwiebeln und Schafskäse zuerst, Kaffe und HANIMELLER – Spritzgebäck mit Schokotropfen – „So wertvoll wie aus Großmutters Hand“ – anschliessend.
So muss es sein!
Die satte Trägheit lullt weitergehende Ansätze von Kommunikation in zufriedenes Dösen. So halt.
„Yol Seksen“ ist die Europastrasse 80.
Wo sie genau beginnt und wo endet wissen wir nicht. Auf jeden Fall verbindet sie das westliche Ende der Türkei mit dem östlichen. Weit über zweitausend Kilometer von Edirne an der bulgarischen Grenze bis Doğubayazıt an der iranischen Grenze. Wir nehmen die Strecke als Orientierung, folgen ihr direkt, wenn wir zügig vorankommen wollen und machen Abstecher ins Bergland, wenn wir mehr sehen wollen. Karger und karger wird es von Westen nach Osten. Je tiefer wir über Nebenrouten und Pisten eindringen, desto unnahbarer begegnet uns die ursprüngliche Natur. Sie zeigt ihre zersetzenden Kräfte im Verwittern, Zerbröseln und Fortspülen.
Der Euphrat hat in seinem Oberlauf gleich mehrere imposante Schluchten quer durch das anatolische Hochland gefressen. Hochwasser, braun und lehmig, lässt Durchpaddeln mit unseren eigenen Booten momentan nicht zu. Wir wollen die Strecke von Kemah abwärts dennoch besichtigen. Die Straße umgeht den Schluchtbereich allerdings großräumig durch die Berge. Weniger erschrocken die Bahnlinie, sie folgt dem Fluß durch die tief eingeschnittenen Schluchten.
Zweimal am Tag geht ein Zug. Wir nehmen die Verbindung am Nachmittag.
„Nereye? (Wohin?)“ fragt der Mann am Schalter.
„Iliç“ nennen wir als Ziel, schieben ein paar Münzen unter der Glasscheibe durch und setzen uns zu den anderen Wartenden auf die Bahnsteigkante.
Kurz darauf schleppt eine sichtlich abgearbeitete Diesellokomotive eine Hand voll Personenwagen und eine lange Reihe angehängter Güterwagen heran. In Plastikplanen verschnürte Gepäckstücke und Blechbehälter werden rasch aus- und eingeladen. Der staubige Zug wartet ungeduldig einige Minuten, dann nimmt er uns schon mit. Vorbei an ein paar wellblechgedeckten Häusern, einer Moschee und schwitzenden Menschen. Bald hören die Behausungen auf, die Asphaltstrasse entfernt sich in einer scharfen Biegung. Wir passieren die erste, nur einige Meter breite, Engstelle. Die Sonne verschwindet hinter den Schluchtwänden. Ein weiteres, eindrucksvolles Felsentor – noch enger. Danach steile Wände, unterspülte Felsen, das gesamte Wasser prallt auf drei zimmergroße Blöcke. Wenig später quert die Bahntrasse einen Seitencanyon. Zwei-, dreimal im Verlauf unserer Fahrt öffnet sich die Schlucht etwas und bietet Platz für einsame Zughaltestellen. In der Nähe einige verstreut liegende, geduckte Lehmhäuser und sorgfältig aufgetürmtes Brennmaterial, Kuhdung, für den kommenden Winter. Die Landschaft lässt erkennen, dass der menschlichen Ansiedlung und Kultivierung hier viel Mühe abverlangt wird. Häufig liegen Felder brach. Schnell fällt das Geschaffene in seinen ursprünglichen Zustand zurück, sobald die Anstrengungen nachlassen.
Die Menschen sind kantig und ausgedörrt. Männer tragen buschige Türkenschnauzer, Frauen Kopftücher.
Ängstlich schleichen Hunde am Bahnsteig entlang. Als der Zug ruckend wieder anrollt, rennen die Hunde kläffend neben den Wagons her. Nach einer Weile geben sie auf, in dem Glauben, sie hätten den Zug vertrieben.
So muss es sein!
Mit dem Taxi lassen wir uns spät am Abend zurückbringen.
Zurück auf die Yol Seksen. Mit grossem Eifer wird zur Zeit am vollständigen Umbau der Strasse gearbeitet. Lange Abschnitte legen wir im Staub von Baustellen zurück, aufgewühlt und zerfurcht das eine mal, geschottert, aber noch nicht asphaltiert, das andere mal. Im Grunde genommen erlebt die gesamte Strecke gerade einen Generationswechsel. Abgetrennte Überbleibsel ehemaliger Generationen liegen als verwilderte Schleifen rechts und links neben der heutigen Fahrbahn. Sie erinnern an die früheren Jahre der Yol, in denen sie sich den landschaftlichen Gegebenheiten noch flexibel angepasst hat.
Solche Bescheidenheit liegt der neuen, vierspurigen Yol fern.
Die natürlichen Hindernisse werden weggeräumt, unnötige Kurven und Steigungen beseitigt. Die Route zieht ihre Linie jetzt in grosspurigen Bögen an Hängen und Flussläufen entlang oder schnurgerade durch hitzeflimmernde Ebenen.
Mit einem feuchten Tuch kühlen wir uns Gesicht und Arme. Die Reifen hinterlassen Abdrücke ihres Profils im klebrigen Asphalt. Vereinzelte Wolken sind willkommene Schattenspender – selbst beim Fahren.
Vorbei an Bergen, geformt wie hingeschütteter Sand, durchzogen von farbigen Strähnen, die der Maserung von aufgeschnittenem Marmorkuchen ähneln – was für seltsame Gedanken diese grossartigen Landschaften doch erzeugen. Die Vorstellung spinnt ein geologisches Getriebe, das die gelben und roten Gesteinsschichten wie Teig ineinandergerührt hat.
„Dikkat!“ (Achtung!)
„Yavaş!“ (Langsam!)
Schon gut, schon gut – auf den Verkehr konzentrieren!
Schlaglöcher! Schlaglöcher! Schlaglöcher!
„Drive Your Way!“ ermutigen Werbetafeln am Strassenrand. In gewagten Schlangenlinien sucht also jeder seine eigene Spur. Wer die Gegenfahrbahnen für besser hält, wechselt ohne Skrupel auf die andere Seite des Betonkanals, der die Richtungen voneinander zu trennen versucht.
Wären dazwischen bloss nicht auch noch die genauso unberechenbaren Kühe.
„Vorsicht Baustelle!“
Aufgewühlter Staub.
„Da vorne winkt was!“
Neonfarbene Weste mit roter Fahne.
„Welche Spur?“
Spuren verlaufen in unüberschaubare Richtungen.
Einen Moment später sind Richtig und Falsch nicht mehr voneinander zu unterscheiden.
Geisterfahrer, überall Geisterfahrer.
Sorry – liebe Freunde – seid doch vernünftig!
Kampfgeist beherrscht das Feld, die Sorge zurückzufallen ersetzt den angeborenen Überlebenstrieb.
Ärgern und Schimpfen helfen nicht.
Ein defensiver Fahrstil gibt uns immerhin das Gefühl, dem klugen Rat wohlmeinender Verkehrserziehung zu folgen.
Nein – was wirklich hilft und alle hier aus tief verwurzelter Überzeugung beherzigen: Gesundheit und Leben vertrauensvoll in Allahs Hände legen !
So muss es sein!
Bei der ostanatolischen Stadt Erzurum verlassen wir nocheinmal die Yol Seksen. Wir durchfahren die mächtigen Gebirgszüge und Schluchten im äussersten Nordosten der Türkei, nahe der georgischen und der armenischen Grenze. Die dünn besiedelte Region wird aufgrund ihrer Geschichte auch als Türkisch-Georgien bezeichnet. Vereinzelte Schneefelder an Berghängen erinnern uns an die große Höhe, in die kurvenreiche Bergstrassen im Wechsel mit Strecken durch steppenartige Hochebenen führen.
Ein Umriss hebt sich in der Ferne höher und markanter ab. Mit zusammengekniffenen Augen können wir im hellen Dunst am Horizont eine regelmäßige Kontur ausmachen.
„Der Ararat?“
„Ja, der könnte es sein.“
Der legendäre, biblische, schneebedeckte Vulkan. Beim ersten Sehen ein erhebendes Gefühl. Einmalig. Je näher wir kommen, desto klarer und majestätischer erhebt sich der Bilderbuch-Berg aus der Ebene.
„Halt mal bitte an. Da vorne. Ich möchte ein Foto machen“ –
> Strasse mit grünem Sprinter auf Ararat zu <
Es gibt ein ganz vereinfachtes Symbol für Berg: Ein Dreieck mit gezackter Linie für den Schnee auf der Spitze – so sieht er aus, der Ararat, genau so.
Ağrı Dağı, Schmerzensberg, heisst er auf türkisch.
Doğubayazıt, in der Ebene am Fuss des Ararat gelegen, ist auf unserer Route die letzte größere Stadt vor der iranischen Grenze. Wir wollen die Stadt heute abend noch erreichen.
Auf Murat’s Gelände am Hang, unterhalb des eindrucksvollen Ishak Pascha Palast’s, finden wir einen einigermassen schattigen Standplatz. Die Stadt selbst wirkt provisorisch, staubig und aufdringlich – „Hellooo“ (das lang gesprochene „o“ langsam höher ziehen).
Was hält uns also hier?
Lebensmittel kaufen, Geld und vorschriftsmäßige Kleidung beschaffen für die Zeit im Iran und schliesslich Recherchieren im Internet-Cafe.
Wie steht’s um unsere geplante Route über den Karakorum-Highway?
Erdrutsch in Pakistan!
„Es hat sich ein ständig anwachsender See gebildet …
Es wird von Reisen in diesen Teil Gilgit-Baltistans abgeraten …
Wann der Karakorum-Highway wieder befahrbar sein wird, ist derzeit nicht abzusehen.“
Unverändert seit Wochen.
Wir müssen jetzt doch anfangen, uns über alternative Routen ernsthaft Gedanken zu machen.
Vorher aber zur Kleiderordnung der nächsten Wochen.
„Viele Frauen, die sich nicht angemessen kleiden, verführen junge Männer zur Unkeuschheit und verbreiten Unzucht in der Gesellschaft, was letztendlich zu Erdbeben führt.“
Und wenn das wirklich stimmt?
Um derartige Naturereignisse zu vermeiden, mühen wir uns durch Doğubayazıt’s Kleidergeschäfte, um uns ab morgen „angemessen“ zu kleiden.
„Besser braun als schwarz“ hilft der Händler bei der Auswahl eines langärmligen Hemdes.
„Da sieht man den Dreck nicht so.“
Als er sein allerletztes Angebot noch einmal um 5 Lira senkt werden wir uns einig.
Und Frauen in der Öffentlichkeit?
Viel Stoff in langweiligen „Farben“!
Ein wenig aufgebracht über die staatliche Bevormundung wollen Nicole und Ursel den Spielraum der islamischen Kleiderordnung ausloten, sich dem Zwang nur soweit unbedingt nötig unterwerfen. Sie wählen extraweite Hosen, extralange Blusen und gezwungenermassen – Kopftücher.
Ein Mantel oder gar Tschador (heisst Schleier oder auch Zelt) sei seit einiger Zeit nicht mehr erforderlich, heisst es. Trotz dieser „sittlichen Aufweichung“ hoffen wir, mit unserer „angemessenen“ Bekleidung einen kleinen Beitrag zur Vermeidung von Erdbeben zu leisten.
So muss es sein!
Morgen Vormittag werden wir den Grenzübergang in den Iran angehen.
„Allaha ısmarladık“ (ist die türkische Verabschiedung der Gehenden).