Aber wozu ?

Texte Türkei 1 | Kefken am Schwarzen Meer, Mai 2010

„Kacken ohne Schmerzen“ ist Udo´s Bedingung.
Jetzt scheint´s so weit zu sein. Doxycyclin hat die Bakterien gestellt. Sie haben sich nach wochenlangem Widerstand endlich ergeben. Udo geht´s besser. Gelenk- und Gliederschmerzen sind auf ein erträgliches Mass zurückgedrängt.
Ursel hat währenddessen Eile mit Gelassenheit besiegt: „Unvorhersehbares gehört zum Reisen“.
Die Beiden sind vor drei Tagen mit ihrem VW-Bus Syncro von zuhause aufgebrochen nach Istanbul.
Wir finden den Syncro in einer Seitenstrasse hinter der Hagia Sofia, Udo und Ursel im nächsten Teehaus.
„Und wie war Eure Fahrt?“
„Eigentlich ganz gut“
„Eigentlich?“
Ihre Herfahrt enthält alle Elemente für eine dramatische Reisegeschichte. Dunkle Ecke, kaltblütiger Räuber und rettender Held.
Tatort: Serbien, nahe Belgrad, nachts um drei auf einem Rastplatz an der Autobahn.
Im letzten Moment konnten sie, aus unerklärlichen Gründen aus dem Tiefschlaf geweckt, einen Einbruch in ihren Syncro verhindern.
Licht an! Lautes Klappern mit dem Tischbein und leises Klappern mit den Zähnen – „Hoffentlich kommt er jetzt nicht rein“ – haben genügt, um den Einbrecher in die Flucht zu schlagen – zum Glück.

Für morgen nehmen wir uns die Beantragung der Visa vor.
Das iranische Konsulat hat aus Teheran sogenannte Referenznummern für uns erhalten. Wir können daraufhin unsere Visa beantragen. Die Pässe mit den eingeklebten Reiseerlaubnissen holen wir am nächsten Morgen ab. Die notwendigen Einladungen zur Beantragung von turkmenischen Visa sind leider noch nicht da. Das gefällt uns gar nicht. Ein dritter Istanbulbesuch wird notwendig.
Nach der Behördenpflicht am Vormittag noch etwas Besichtigungskür am Nachmittag.

Yerebatan Zisterne, unterirdisches Säulenspektakel aus dem sechsten Jahrhundert. In den alten Zeiten wurde mit diesem Speicher die Wasserversorgung der Stadt sichergestellt. Für Spezialisten von Gruften und Gewölben ein interessantes Objekt. Bei uns werden eher die Sinne angesprochen. Mit raffiniert beleuchteten Backsteingebilden und sanfter Sphärenmusik.
Noch was Altes.
Tausende kleiner Lädchen, sauber aufgereiht in überdachten Passagen:
Istanbul´s „Großer Bazar“ – Wahnsinn!
Neueröffnung im 15. Jahrhundert. Sensationelle Eröffnungsangebote: Handgefertigte Kunstschmiedearbeiten, Fellmützen, Fett- und Ölbehälter.
Heute: Modische T-Shirts mit originellem Frontprint „ISTANBUL“ und glitzernde Pantöffelchen. „Alles klar?“ Erfolglose Kontaktversuche gehören zum Selbstverständnis routinierter Verkäufer. „Çok pahalı (Zu teuer) – Freunde – Drei Stück für den Preis von Zwei – Schlitzohren. Schöner shoppen im Bazar.

Ortswechsel. Wieder raus ans Schwarze Meer. Kleine Etappen bringen uns ostwärts. Vereinzelt treffen wir einheimische Urlauber. Die türkischen Sommerferien beginnen erst Mitte Juni. Sandstrände und kleine Buchten sorgen an der sonst felsigen Küste hin und wieder für Bademöglichkeiten.
Auch beim Schwimmen sind türkische Männer meist unter sich. Nur die sinnenfreudigsten Frauen tippeln, durch Röcke, Überhänge und Kopftücher gut geschützt durch höchstens knöcheltiefes Wasser.
Männer kennen da weniger Enge und Zwänge. Die Freiheit zeigt sich in weiten Badeshorts. Wer in der Türkei nicht als lächerlich und unmännlich angesehen werden will vermeidet enge Zipfelzwicker besser.

Kefken, in diesen unscheinbaren Ort am Schwarzen Meer sind wir gekommen, weil der rote Stern hinter dem Namen auf der Landkarte empfiehlt: „Einen Umweg wert“. Ein Druckfehler vermutlich. Wir beziehen die Empfehlung später auf Acayip – den Merkwürdigen.
Acayip und seine Frau Kari sind noch nicht lange Eigentümer des stolzen Hauses über der Bucht, an der wir einen guten Stellplatz gefunden haben. Der Anwalt, erklärt Acayip, von dem sie das geräumige Gebäude übernommen haben, hat sich vor kurzem entschlossen, sein Vermögen in Amerika zu vermehren. Solch profanen Ehrgeiz hat Acayip nicht. Er ist 48, sieht sich als „Rentner“ und würde Dinge grundsätzlich nur tun, wenn sie sich mit seinen Idealen vereinbaren liessen – wenn!
Acayip gehört zu jenen Zeitgenossen, für die es schwierig ist, einen Platz in der Welt zu finden. Er möchte das Haus schnellstens wieder verkaufen.
So steht er vor uns, schlacksiger Körper mit Restspannung, in der Haltung eines Mannes, dem das Leben viele Fragen stellt, die Antworten aber schuldig bleibt.
Abends sitzen wir auf einer der vielen Terassen des Hauses mit Blick auf´s Meer. Sechzig bis achtzig fingergroße Fischchen brutzeln schon draussen auf dem Holzkohlegrill.
Unsere Gastgeber haben in Deutschland zuletzt ein gut laufendes Restaurant betrieben. Kari in der Küche, Acayip bei den Gästen.
Er erzählt gerne und stellt genauso gerne, sich selbst und uns, existenzielle Fragen zu Gott und der Welt. Beispielsweise: „Was hat das alles für einen Sinn?“ Wir versuchen´s mit einer bewährten, üblicherweise befriedigenden, Erklärung: „Der Sinn ist nicht einfach so da. Man muss seinem Leben einen Sinn geben. Sich eine Aufgabe suchen. Vielleicht zum Wohl der Gesellschaft oder zur Unterstützung von Benachteiligten.“ Aber mit derart Oberflächlichem wird man dem wahren Sucher natürlich nicht gerecht. „Ich meine, das kann doch nicht alles sein. Kommt da noch was?“
Nachdem die erste Flasche Raki aufgebraucht ist (wird im Glas vor dem Trinken gerne mit frischem Wasser aufgegossen und dann milchig trüb) werden die Antworten auf die Frage nach dem Sinn persönlicher: „Mit Freunden zusammensitzen – Raki trinken.“
Als wir Acayips gewagte Behauptung: „Die Türken kriegen überhaupt nichts hin“ mit großartigen Gegenbeispielen zu widerlegen versuchen, hebelt er das mit „Waren keine Türken!“ oder wenn´s doch Türken waren mit „Waren keine Leistungen!“ aus.
Bei der zweiten Flasche Raki setzen wir uns mit erkenntnistheoretischen Fragen auseinander: „Braucht man für tiefere Einsichten Bücher?“ Acayip jedenfalls stellt klar, noch nie eins gelesen zu haben.
Gegen Ende der zweiten Flasche Raki erklärt er seine Haltung in fünf Worten: „Ich könnte alles – Aber wozu?“
Wir verstehen es als fatalistisches Daseinskonzept des „resignierten Konjunktivs“.
Beim Ende der zweiten Flasche Raki stellt sich erneut die Frage: „Da muss es doch noch was geben!“
Klar! Gibt es!
Der vorsichtshalber kühl gestellte Sekt wird geholt und in die leeren Rakigläser geschüttet. Schäumt aber gewaltig!
Die Gläser sind noch nicht leer, da muss Acayip dringend auf´s Klo.
Er kommt nicht wieder – Na also!
„Iyi geceler (Gute Nacht)!“


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