Du MUSST es schaffen

Texte Türkei 1 | Kıyıköy, Ende April - Anfang Mai 2010

Kıyıköy findet man nicht zufällig. Alle wichtigen Verkehrsverbindungen sind weit entfernt, selbst das löchrige Landsträsschen, dass über dicht bewaldete Hügel hin führt, biegt kurz vor dem Ort uninteressiert wieder ab. Man könnte an Kıyıköy vorbeifahren ohne es bemerkt zu haben.
Es braucht schon einen Tipp von einem Ortskundigen oder aus dem Reiseführer, der auf das versteckte Fischerörtchen am Schwarzen Meer ausdrücklich aufmerksam macht. Und wir zögern sogar noch als wir den Durchgang der alten Festungsmauer passieren, weil wir dahinter nur noch Fussgänger und Eselskarren vermuten.
Unsere Bedenken sind unnötig, alles was wir suchen finden wir: Markt, Teehaus, Telefon und Internet. Und wir finden ausserordentliche Hilfsbereitschaft. Die Frage nach einer „telefon kabini“ wird nicht einfach mit einer Wegbeschreibung erledigt. Anstelle einer blossen Antwort reicht der Eine umgehend sein Handy, der Nächste bietet ohne Weiteres seine Telefonkarte an und nimmt sie nur zögerlich wieder zurück, nachdem wir verständlich machen konnten, eine Eigene kaufen zu wollen.
Kleine Gesten einer wohltuenden Gastfreundschaft.
Als wir die Phase grosszügigen Anbietens, überschwänglichen Dankens und nachhaltigen Ablehnens absolviert haben, erhalten wir die gewünschte Auskunft – kaum fünfzig Meter entfernt, gleich um’s Eck ist das Postamt mit den Telefonzellen, dort gibt’s auch die Turkcell-Karten zu fünf türkischen Lira für fünfzig Einheiten.
Von zu Hause aus erhalten wir einen unerfreulichen Hinweis unseren Weg nach Indien betreffend, genauer gesagt zur einzigen für uns möglichen Strassenverbindung von China nach Pakistan. Soweit wir über’s Internet nachvollziehen können, hat ein Erdrutsch zur Bildung eines zwölf Kilometer langen, weiter anwachsenden Stausees geführt. Ein Stück unserer Strecke über den Karakorum Highway soll, laut Auswärtigem Amt, überflutet sein:
„Es wird von Reisen in diesen Teil Gilgit-Baltistans abgeraten, bis ein kontrollierter Abfluss des aufgestauten Sees erfolgt. Wann der Karakorum Highway – und damit die Straßenverbindung nach China – wieder befahrbar sein wird, ist derzeit nicht abzusehen.“
Wir nehmen’s zur Kenntnis – weil uns im Moment nicht anderes übrig bleibt – und gehen weiter Richtung Teehaus.
Einige der ältesten Häuser Kıyıköys, bei denen die oberen Stockwerke noch aus Holz aufgebaut wurden, stehen so windschief über die Strasse gelehnt, dass wir beim Vorbeigehen vorsichtshalber auf die andere Seite der Strasse wechseln.
Wir treffen uns mit Arkın. Vierzig Jahre alt ist er. Vor über zwanzig Jahren kam er mit seiner Familie, seinen Eltern und Geschwistern aus Deutschland zurück nach Kıyıköy. Er ist, wie viele im Ort, je nach Möglichkeit und Jahreszeit mal Selbständiger, mal Tagelöhner. Heute ist er weder das eine noch das andere. Beim Çay erzählt er uns von seinen Verdienstmöglichkeiten: „Im Sommer tauchen wir nach Muscheln oder Seeschnecken, die werden nach Japan verkauft. Sonst arbeite ich manchmal als Fischer, LKW-Fahrer, Bauarbeiter oder helfe bei Arbeiten im Wald. Ich mach alles – aber unter dreissig Lira am Tag arbeite ich nicht.“
„Und wenn’s mal keine Arbeit gibt?“
„…bin ich hier im Teehaus. Manchmal kommt dann unser Imam und sagt: Da sind Fremde im Dorf – geh hin und frag ob sie Hilfe brauchen.“
„Kommen viele Fremde her?“
„Nein, nicht viele. Eva und Christian sind hier, die sind vor zwei Monaten aus Indien zurückgekommen.“

Am nächsten Tag sitzen wir im Lotussitz auf indischen Teppichen in einer kleinen Dachwohnung, mit weitem Blick über den Fischerhafen und das Schwarze Meer.
Wir trinken Zitronenwasser und Eva und Christian erzählen vom Suchen nach der Wahrheit. Die vergoldeten Buddhas auf ihren Podestchen um uns herum blicken derweil, betont gelassen wie immer, auf uns herunter. Das bunte Holzkreuz, über den Buddhas mit Fäden befestigt von einem Deckenbalken herabhängend, interpretiere ich als Symbol christlicher Erkenntnis über Allem. Von draussen ist irgendwann der an’s Gebet erinnernde Ruf des Muezzins zu hören. Christian und Eva nutzen das Signal als Aufforderung ihr „Sonnengebet“ einzulegen, wie der Ruf vom Minarett, fünfmal am Tag.
Was hier aussieht wie ein „Best of“ von Religionen, ist meinem Eindruck nach die aufopfernde Suche nach dem einen, letztgültigen Kern des Glaubens. Aber, liebe Freunde, meine Beziehung zum Scholastischen ist nicht sehr leidenschaftlich – und ehrlich gesagt habe ich nicht genug verstanden, um dem Gehörten dieses langen, befremdlichen Nachmittags auch nur annährend gerecht zu werden.
Zum Abschied fasst mich Christian fest an den Schultern und mahnt eindringlich: „Roland, du MUSST es schaffen – du MUSST es schaffen!“


Mehr über Türkei 1

...
Vorheriger Text
...
Nächster Text
Bilder
... ... ... ...