Texte Türkei 1 | Ostthrakien, Ende April 2010
Wir verlasen Bulgarien und mit ihm endgültig die Europäische Union gegen Mitternacht durch eine Art Schlupfloch. So jedenfalls stellt sich der bulgarische Grenzposten dar, wie ein schäbiges Loch in der Trennwand zwischen zwei Welten. Mit einer herablassenden Handbewegung werden wir aus der Union hinausgewunken.
Sichtbar anders auf der türkischen Seite, dort ein weitläufiges Areal mit hellen Gebäuden, zweckdienlich und steril, gleichzeitig aber ein beruhigendes Gefühl von Korrektheit und Unbestechlichkeit vermittelnd. Das Fahrzeug wird in den Pass eingetragen, wir erhalten sechs Monate Aufenthaltserlaubnis. Wirklich ein grosszügiges Tor zum Orient.
Edirne, nahe der Grenze, lässt von der ersten Minute an keinen Zweifel an seiner orientalischen Geschichte. Hier in Edirne errichtete der „altehrwürdige Baumeister Sinan“ im Auftrag des Sultans sein Meisterstück, die beeindruckende Selimiye-Moschee, „um den Ungläubigen von der Grösse Allahs zu künden“.
Wir beobachten das Treiben am 16-eckigen Reinigungsbrunnen im Innenhof und das respektvolle Verhalten, dass das Bauwerk sowohl den Gläubigen als auch den Ungläubigen gebietet. Lange sitzen wir auf den steinernen Stufen, den Strom der Besucher verfolgend, um herauszufinden, welches Verhalten erwartet wird: Nur barfuss in Innere der Moschee, Kopftuch für Frauen, Füsse am Brunnen reinigen – die alten Regeln werden seit Generationen befolgt.
Wir wollen die Gebetshalle ein andermal besuchen.
Stattdessen suchen wir heute nach einem Bad.
Ein kleines Stück unterhalb der Moschee, das Sokullu Hamam, ebenfalls von Sinan erbaut. Unser letztes Bad in einem Gletscherbach und danach über 1.500 km Fahrt quer über den Balkan sind Gründe genug, uns für ein türkisches Bad zu entscheiden.
Separate Bereiche mit, nach Geschlechtern getrennten Eingängen auf gegenüberliegenden Seiten des Gebäudes, sorgen für klare Verhältnisse. Das die sich merklich voneinander unterscheiden stellen wir fest, als wir später unsere Badeerlebnisse gegenseitig austauschen. Zumindest ist die von Atatürk angestrebte Gleichberechtigung von Männern und Frauen noch nicht in jedem türkischen Bad verwirklicht.
Der folgende Abschnitt erzählt also vom komfortableren Bereich mit bevorzugter Behandlung.
In der grossen, mit dunklem Holz ausgekleideten, Vorhalle tausche ich meine Strassenschuhe gegen braune Plastiklatschen. Der Tellak (ist der Badediener) begleitet mich hinauf zur umlaufenden Galerie, wo er für jeden Besucher ein eigenes, abschliessbares Räumchen zur Verfügung stellt. Er umwickelt mich mit einem Peştemal (ist ein Lendentuch), das mich an ein verlängertes Geschirrtuch erinnert, drückt mir weitere Tücher in die Hand und weist mir den Weg durch eine schmale Türe in den Bereich der Körperreinigung. Von diesem Raum an hat Sinan sich ausnahmslos für grauweissen Marmor entschieden, der das wenige Licht, das durch kleine Öffnungen von draussen hereindringt, schummrig reflektiert. Und für Messing. Messing für die Kalt- und Warmwasserhähne der zahlreichen marmornen Waschbecken, die überall entlang der Wände und in jeder Nische stehen.
Ein weiterer schmaler Durchgang führt ins eigentliche Innere des Hamams. Ausser mir ist gerade niemand da, überhaupt scheint das Bad wenig besucht.
Ich trete ein. Der achteckige Saal wird von einer hohen Kuppel überwölbt. Durch kreisförmig angeordnete, sechseckige und sternförmige Öffnungen in der Wölbung fällt Sonnenlicht in dünnen Bändern ins dunkle Innere. Oberhalb der mannshohen Marmorverkleidung rosarote Ornamentik.
Ein Anflug von Moder in der warmen, von Feuchtigkeit gesättigten Luft. Den aufgeregten Strassenlärm rund um den gegenüberliegenden Ali-Pascha-Basar schlucken die jahrhundertealten Mauern. Was bleibt ist das Tropfen und Plätschern der Messinghähne und überlaufenden Becken.
Ringsherum in jeder Wand wieder Durchgänge in acht weitere, mal mehr, mal weniger heisse Marmorräume mit etlichen Becken und Hähnen.
Vielleicht ist das der Grund für das schwindende Interesse der Türken am türkischen Bad – vielleicht liegt es am Spartanischen, am Unspektakulären, gemessen an heutigen Ansprüchen, den wenigen Elementen, Marmor, Wärme und Wasser, mit denen das alte orientalische Bad auskommt.
Ich geniesse die entspannte Atmosphäre unter der Mitte der Kuppel, die Wärme des glänzenden Marmors der achteckigen Liegefläche und beobachte die langsam wandernden Lichtpunkte an den Wänden und auf dem Boden – Sechsecke und Sterne.