Biraz asiri

Texte Türkei 1 | Taraklı, Marmararegion, Anfang Juni 2010

„Vermeiden Sie nach Möglichkeit jeden Kontakt!“
Irgendwann nach Einbruch der Dunkelheit hören wir das Knirschen sich nähernder Autoreifen auf dem Schotterweg. Das Geräusch hat für uns eine ähnlich alarmierende Wirkung wie der Schlachtruf einer Horde, der man lieber nicht in die Hände fallen möchte. Blau und rot oszillierendes Licht auf dem Fahrzeugdach signalisiert sofort Polis oder Jandarma.
Um der schattenlosen Hitze am Meer zu entkommen, sind wir einer Strasse nach Süden, ins Landesinnere, gefolgt. Sie hat uns hinauf gebracht in die Bergregion oberhalb der Schwarzmeerküste. An unserem Lagerplatz zwischen dem rissigen Asphaltsträsschen und einem spärlichen Bachlauf kommen sonst nur wenige vorbei. Gelegentlich ein Dörfler mit Traktor auf seinem Weg zur Feldarbeit. Ahmet der Schulbusfahrer, genannt Erdbeermann, weil er immer nur mit ein paar Obstkisten unterwegs ist, aus denen er uns beim Vorbeikommen freizügig versorgt. Die beiden Waldarbeiter, Brüder, die auf ihrem Heimweg nach dem Dunkelwerden über den Bach herüberkommen. Das läuft jeden Tag gleich ab.
Wir sind heute den dritten Tag da.
Kein Wunder, dass man inzwischen auf uns aufmerksam geworden ist. Unser Reisebuch warnt: „Polizeikontrollen können Wildcampen zu einem nervigen Unterfangen werden lassen“.
Was mit „wildem“ Campen gemeint ist, bleibt unklar. Uns gibt es unterschwellig zu verstehen, wenn nicht etwas Verbotenes, so doch zumindest Unerwünschtes zu tun.
Blau und rot oszillierende Lichter. Vielleicht fährt der Wagen ja doch weiter, möchte gar nichts von uns wissen. Aber die Scheinwerfer halten genau auf uns zu.
Das letzte Mal sind wir vor Istanbul, gleich zweimal aus dem Schlaf gerissen, durch Kontrollen belästigt worden.
Solange wie möglich versuchen wir Unbetroffenheit zu zeigen. Wir wollen es nicht wahrhaben. Polizei? Wegen uns? Aus welchem Grund auch? Schlau, um einen schuldbewussten Eindruck zu vermeiden.
Einfach nicht beachten!
Längst ist klar, wir sind mal wieder gemeint.
Ein leises Ziehen im Genickbereich, wie vor einer unausweichlichen Strafpredigt.
Als der Wagen vor uns zum Stehen kommt, öffnen sich die Türen. Alle vier.
Jetzt ist der Moment, sich aus der versumpften Stimmung des Lagerfeuers zu lösen und in die nüchterne Wirklichkeit zurückzukehren. Sich dem Kommenden gezwungenermassen so unschuldig wie selbstbewusst zu stellen.
Herausgerissen, wie wenn man angenehm gedankenversunken auf Bekannte trifft, während man sich zu einem vernünftigen Gespräch gerade nicht in der Lage fühlt. In der Hoffnung, dass es schnell vorbeigeht und nicht allzu schwierig wird.
Polizisten steigen aus.
Zwei – vier — fünf —- sechs —— sieben!
Einer tritt vor, streckt die Hand aus, begrüßt jeden von uns per Handschlag. Die anderen folgen ihm. Ausgiebiges Händeschütteln. Höfliche Geste, aber wir bleiben skeptisch.
Nach der überschwänglichen Begrüßungszeremonie stehen wir uns schweigend gegenüber, blicken uns alle gespannt an. Die Mannschaft ist jung, kaum einer über fünfundzwanzig. Ein eventueller Wortführer ist nicht auszumachen. Niemand beginnt mit einer Befragung. Nachdenkliche Stille legt sich stattdessen wie Blei über die Gedanken. Nach und nach schauen alle betreten auf den Boden.
Um die Peinlichkeit des Schweigens zu entschärfen bringt Udo eine erlösende Frage ins Spiel: „Problem – Stehen – Übernachten – Hier?“ Er weisst dabei mit den flachen Händen auf den Boden, um zu zeigen: Hier, diesen Platz meine ich!
Wie überrascht über die Frage, wird eilig verneint: „Nein, nein – kein Problem! Routine! Nur Routine!“
Dann wieder Schweigen.
Nervöse Schuhspitzen schieben auf dem Boden liegende Kiefernzapfen hin und her. Einer hat sich entschlossen, die Zeit sinnvoll zu nutzen. Mit dem Zeigefinger reinigt er die Innenwände seiner Nase. Die Krümel lässt er verhohlen fallen. Die Gedanken beginnen zu wandern. Wieviele Hände werden geschüttelt, wenn sieben Ordnungshüter vier Reisende begrüßen?
Nach einer gefühlten Ewigkeit fällt erneut ein Wort: „Passport?“ Nicole will helfen und schlägt eine Passkontrolle vor.
Sichtliche Erleichterung. Die Idee wird dankbar aufgenommen. Kurze Besichtigung der Pässe. Hände schütteln zur Verabschiedung.
Wir sind wieder allein in der Dunkelheit – Wir Unerschrockenen!

Sonderbare Geschichte. Auf dem schmalen Grad zwischen Wirklichkeit und Phantasie.
„Biraz aşırı“ bedeutet übrigens „Ein wenig übertrieben“.


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