Texte Türkei 1 | Istanbul, Mai 2010
Istanbul ist gross. Vor grossen Städten haben wir Respekt. Wir haben Angst, sie könnten uns zuviel abverlangen, unsere Ungezwungenheit einfordern, uns nötigen unsere Unabhängigkeit aufzugeben, weil unsere Art des Reisens dort so nicht vorgesehen ist. Weil dort Massentourismus organisiert und abgewickelt wird.
Wir „kreuzen“ erst einmal fast zwei Wochen vor der Bosporusmetropole. Thrakien heisst die Gegend unserer „Warteschleifen“, die durch ausgedehnte Felder, aber wenig abenteuerliche Landschaften geprägt ist.
Schliesslich haben wir uns durch diesen europäischen Teil der Türkei am Marmarameer entlang bis an die gelbe Dunstglocke Istanbuls herangearbeitet.
Letzte Nacht sind wir auf unserem Übernachtungsplatz am Meer zweimal von der Polizei zur Passkontrolle geweckt worden.
Wir grübeln noch über die beste Strategie, den Stadtaufenthalt zu bewerkstelligen ohne unser Reisebudget allzu sehr zu strapazieren, als uns eine kleine Bemerkung im Reiseführer zu einem Otopark (Parkplatz) am Rand der historischen Altstadt Sultanahmet weiterhilft. An sich keine Besonderheit, ein Parkplatz in einer Grosstadt, aber für uns scheint er alle Vorteile zu vereinen, die wir brauchen, um uns dieser Stadt zu stellen.
Also doch mit dem Auto ins Zentrum?
Auf einer der überdimensionalen Werbewände, die die gesamte Front eines Einkaufszentrums am Stadtrand überdeckt, fordern drei Worte in riesigen Buchstaben: „JUST DO IT“ – und das entscheidet.
Wir fädeln uns in den Sonntagsverkehr Richtung Innenstadt ein und versuchen möglichst rasch die Grundprinzipien zu verstehen. Ein erstes ist offenbar: „Wenn jemand vor Dir fährt versuche immer, egal wie, an ihm vorbeizukommen!“ Ein anderes: „Blinke niemals, Du könntest Deine Absichten verraten!“ Und eins der am meisten beachteten: „Wenn du im Stau stehst und dich langweilst – hupe!“
Unser Parkplatz stellt sich als staubiges, an drei Seiten von alten Backsteinmauern eingefasstes, aber zum Bosporus hin offenes Juwel heraus – ein echter Acht-Sterne-Platz.
Das muss hier kurz erklärt werden:
Seit Jahren vergeben wir Sterne für die Qualität von Stellplätzen und Kenner wissen, acht Sterne sind ein wirklicher Spitzenwert – für einen Stadtstellplatz sowieso. Zwar fallen die Wertungen nicht immer einstimmig aus, vor allem wohl auch deshalb nicht, weil unklar ist, wie weit die Bewertungsskala geht. Aber unabhängig davon sollte die Beurteilung objektiven Kriterien genügen, die allerdings nicht festgelegt sind. Manchmal spielen Faktoren wie „Energie“ oder „Ausstrahlung“ herein, dann wird´s noch schwieriger.
Hier sind wir aber einig, der Sultanahmet-Otopark hat acht Sterne verdient.
Durch die geöffneten Hecktüren unseres Sprinters können wir auf den, wenige Terassen und Dächer unter uns in der Abendsonne liegenden Bosporus hinab und hinüber auf den asiatischen Teil Istanbuls blicken. Dumpfes Dröhnen von Schiffshörnern mischt sich mit den allgegenwärtigen Geräuschen der Grosstadt, dem unausweichlichen Rufen der Muezzine und den suchenden Schreien der Möwen, die, wie die hupenden Taxifahrer in ihren grellgelben Fahrzeugen, immer zu viele sind und unaufhörlich ihre Chance suchen.
Und auf die Frage stolzer Istanbuler, ob uns die Stadt gefällt, reagieren wir inzwischen mit einem geübten „Çok güzel“ (sehr schön).
Wir befinden uns also im historischen Konzentrat der legendären Stadt, deren Zutaten Byzanz, Konstantinopel und Istanbul heissen und dazu beitragen, dass alles um uns herum geschichtliche Dimensionen hat. Man muss kein Fachmann für islamische Sakralbauten sein, um die erhabene Ruhe der Sultanahmet Camii (Blaue Moschee) zu spüren. Die Bewunderung bedient sich immer der gleichen, etwas abgenutzten Worte: „Aussergewöhnlich, Unverwechselbar, Imposant, Grossartige Harmonie, Unglaubliche optische Raumfülle, Fantastisch auch das Licht, Grossartiges Gesamtbild“.
Am Eingang werden an Besucherinnen Kopftücher ausgegeben. Erfahrene Gläubige haben ihre Fusswaschung bereits aussen an den Längsseiten des Vorhofs absolviert, die anderen gehen einfach so hinein. Im Innenraum der Gebetsstätte herrscht trotz des Besucherstroms eine einladend besinnliche Atmosphäre. Eine riesige Hauptkuppel, von umgebenden Halbkuppeln und vier mächtigen Säulen gestützt, schafft einen weiten Innenraum. Unfaufdringliche Farben und Ornamentik, Offenheit und Weite sowie der schallschluckende Teppichboden tragen angenehm dazu bei, für Gebet und Andacht Raum zu schaffen.
Der Teppichboden: Im Grundton orange im Kontrast zu den vielen blauen Gläsern der Fenster und den blau-grünen Fayencen der Wände.
Der Teppichboden: In seiner Beschaffenheit geeignet, den stechenden Geruch tausender Füsse aufzunehmen und fortwährend in den Gebetssaal auszuströmen. Das ist es, was diese berühmte Moschee mit ihren sechs Minaretten für uns sympathisch macht – diese eigensinnig weltliche Seite.
Indem der Gläubige kniet und den Kopf zum (Teppich-) Boden neigt, zeigt er Allah Demut und Respekt.
Bevor wir Istanbul für ein paar Tage verlassen – wir müssen noch mal zurückkommen, um die beantragten Visa für den Iran und Turkmenistan abzuholen – kaufen wir uns Tickets und besteigen einen der roten „Hop On Hop Off“-Busse, die einem während einer Rundfahrt bequem einen Überblick verschaffen über mehrere Stadtviertel und deren Lage im Labyrinth der Strassen und Plätze. Diese Doppeldecker erheben einen auf dem luftigen Oberdeck majestätisch über das Gewimmel und Gerangel des täglichen Stadtlebens in eine unnahbare Beobachterposition.
Wir fahren vorbei am Topkapi Palast hinunter zu den Anlegestellen der Fähren, überqueren auf der Galatabrücke das Goldene Horn, machen Zwischenstopp auf dem Taksim-Platz im modernen Istanbul, überqueren ein zweites Mal das Goldene Horn.
Die Stimme im Kopfhörer kommentiert derweil bemüht freundlich im türkisch gefärbten Ton: „Rechts sehen Sie die Panoramaaussicht auf das Goldene Horn. Unser Bus wird für eine kurze Zeit verlangsamt, damit Sie diese wertvollen Bilder aufnehmen können“.
Am nächsten Morgen brechen wir auf über den Bosporus Richtung Osten.