Texte Indien 1 | Chandigarh, Dezember 2010
Erstens: Manche der hier beschriebenen Momente sind frei erfunden.
Zweitens: Traum und Wirklichkeit liegen oft nur einen kleinen Schritt auseinander.
Jetzt aber zum Eigentlichen:
„Meine Rede seit `24“, wird Nek Chand, der Strasseninspektor sich gedacht haben (`24 ist Nek Chand’s Geburtsjahr 1924) „und ausserdem würde Le Corbusiers Planstadt ein wenig Unordnung ganz gut tun“.
Jedesmal wenn er an Müll vorbeikam, also ständig – wir sind im Indien der fünfziger Jahre – musste er unbedingt nachschauen, was daraus noch zu machen wäre. Obwohl er sich schon oft vorgenommen hatte nichts mehr mitzunehmen, die romantische Anziehungskraft des scheinbar nutzlos gewordenen Materials war stärker. Der Strasseninspektor gehörte zu den Menschen, die nicht auf die Idee kommen würden, etwas wegzuwerfen und Neuem immer mit einer gewissen Skepsis begegnen. Haufenweise Flaschen und Porzellan, ausgediente Steckdosen, Kabelreste, Leuchtstoffröhren. Gegenstände von erkennbarer Herkunft und andere, deren ursprüngliche Verwendung sich auch bei genauerem Hinsehen nicht erschliessen lässt.
„Armer Kerl, muss im Abfall suchen“. Empfindlichen Nasen mögen sich die Haare sträuben angesichts des Mülls überall und über das wenig ausgeprägte Umweltbewusstsein. Den Strasseninspektor aber inspirierten die schamlosen Gräben und Böschungen voller mangelndem Umweltbewusstsein.
„USE ME“, schien der eben noch heiss begehrte, jetzt am Strassenrand verrottende Ramsch zu flehen. Was für eine Lust, die erstaunlichen Möglichkeiten des unerschöpflichen Materials zu erkunden, praktisch unbegrenzt und kostenlos verfügbar.
Er dachte an das Chaos, das er in die Ordnung bringen wollte. Um Chaos zu schaffen brauchte er Platz. Vielleicht im Sektor 1 nach Le Corbusiers antropomorphem Plan? Regierungs- und Verwaltungssektor, im „Kopf der Stadt“, da war noch Leere. In der Nähe gab es unzugängliches Gelände, Dschungel, sumpfig und von Wassergräben durchzogen. Sicher, eine Genehmigung zu bekommen wäre aussichtslos. Aber das war nicht so wichtig. Man musste ganz einfach Fakten schaffen. Genau, das war’s.
Und am Abend, nach Sonnenuntergang, im Schein eines brennenden Autoreifens vor seiner Hütte sitzend, ätzender Geruch hielt die sirrenden Moskitos fern, Vogelgezwitscher – vermutlich – geistig schon ein wenig schläfrig geworden, begannen seine Gedanken auf dem verbotenen Gelände herum zu streunen. Er schloss die Augen, der ungenaue Übergang zwischen Traum und Wirklichkeit begann sich aufzulösen. Von den Schwaden des qualmenden Gummis getragen, arbeiteten sich die Visionen durch das Dickicht, verbargen sich hinter einem vorsichtshalber aufgetürmten Wall aus rostigen Ölfässern und schufen einen magischen Ort einfacher Lebensfreude, der die rechten Winkel der Planstadt etwas sanfter werden liess. Daran dachte er – berauscht vom Schöpfertum – und an die sinnlichen Farben der zersprungenen Fliesen, die Schönheit der weggeworfenen Sachen, an Bruchstücke und Scherben, Findlinge und Fundstücke. Märchenhaft würde alles werden. Märchenhaft und vor allem anders. Er war fasziniert von der Vorstellung eines alternativen Gartenprojekts. Spontan und unangepasst. So naiv, arglos und unbekümmert wie die Aneignung des Geländes. Eben anders. Eine Gegenwelt zur City aus Beton.
Er blickte auf, vom Beton zum Zement war es nur ein Gedankensprung. Der vielversprechende Kunstdschungel bedurfte ausser der Idee von „REuse – REduce – REcycle“ und der heimlichen Inbesitznahme von staatlich vernachlässigtem Gelände unbedingt noch etwas Weiterem, nämlich einer diskreten Beschaffung von zusätzlichem Baumaterial. Da musste es als Fügung erscheinen, dass die Behörde, bei der er angestellt war, gleich nebenan lag. Deren Lager versorgte nicht nur den aufstrebenden Bau indischer Strassen, sondern praktizierte ganz nebenbei, so wird erzählt, auch die unbürokratische Umwidmung von begehrtem Material.
Nehmen wo Überfluss herrscht, sozialisieren gehen für den Zauberwald, einfach so, in stiller Abgrenzung von konventionellen Normen des Eigentums. Kurzum, der Strasseninspektor nahm sich des abgezweigten Materials an und betonierte sich sein eigenes Wunderland. Eine Art Wiedergeburt hinduistischen Abfalls in einer höheren Seinsform von Kunst. Aus der Zivilisation, den Manufakturen. Gefunden. Modelliert zwischen die Bäume. Stumme Figuren aus Abfall und Zement, einige erschrocken, andere erwartungsvoll vor sich hinschauend oder versunken in Gedanken. Meist sorgfältig in Reihen, wie kopiert und eingefügt – auch das Chaos hat seine Ordnung. Dennoch jede für sich einmalig. Eigensinnig. Vielleicht gerade deshalb auffallend einsam und beziehungslos in ihrer Aufstellung. Manche so hilflos wirkend, dass man sie am liebsten trösten möchte.
Dass das Gelände einmal im Dschungel lag, merkt man heute noch. Verschlungene Pfade, enge Felsdurchgänge, unerwartete Durchlässe, alles erscheint einem rätselhaft und geheimnisvoll. Am besten folgt man seiner inneren Stimme und schlendert mal hierhin, mal dahin. Nur zu. Einen zerfledderten, speckigen Fünf-Rupien-Schein (das ist nicht viel) durch ein dunkles Loch in der Aussenmauer hineinreichen und man darf eintreten und den ganzen Tag, wenn man will, im Garten herumspazieren. Der Park ist nicht umsonst die zweithäufigst besuchte Sehenswürdigkeit Indiens.
Übrigens: Erst nach achtzehn Jahren nächtlicher Bautätigkeit wurde der Meisterstreich aufgedeckt. In einem atemberaubenden Spagat zwischen behördlicher Pflicht und generösem Mitgefühl wurde der Strasseninspektor schliesslich zum „Sub-Divisional-Engineer“ erhoben und das Gelände als „Rock Garden“ in den offiziellen Stadtplan aufgenommen – Grossartig – Unbedingt ansehen – Oder zumindest merken:
Rock Garden in Chandigarh, „ … dem Geist der Kreativität gewidmet vom indischen Volk“.
Ach halt, noch was: Die meist besuchte Attraktion Indiens ist natürlich das unübertreffliche Taj Mahal. Aber das wurde legal erbaut.