Manoj [Teil 1 - Deutsch]

Texte Indien 1 | Varkala, Kerala, Februar 2011

Varkala ist Ausgangsort für unsere Unternehmungen im Süden Kerala’s. Wir trafen Manoranjan Chand in dem kleinen Ort an der Malabar-Küste. Mitte Februar haben wir uns entschlossen, einige seiner Erzählungen über seinen harten Weg aufzunehmen.
Bei einem Glas Fresh Lime Soda in der MalaBar begannen wir, uns Gedanken über Fragen an ihn zu machen. Einige Fresh Lime Soda später waren genug Fragen in den Notizblock geschwitzt. Wir vereinbarten einen Termin mit Manoj und setzten den Entschluss an einem dieser tropisch heissen Nachmittage gegen Ende Februar im Schatten einiger Sandelholzbäume um.

Hier der erste Teil der Aufzeichnungen in der deutschen Übersetzung.

Manoj:
Namaste. Ich heisse Manoj und stamme aus Orissa, im Osten Indiens. Mein vollständiger Name ist Manoranjan Chand. Jetzt arbeite ich in Südindien, in einem kleinen Bundesstaat namens Kerala und von hier bis in meine Heimat sind es etwa zweitausend Kilometer und meine Familie lebt noch immer dort, in Orissa. Aber mein jüngerer Bruder arbeitet hier mit mir seit drei Jahren. Und ich habe einen älteren Bruder, der noch zuhause ist und meine Eltern sind ebenfalls in Orissa.

Nicole:
Vielleicht können wir mit einem kurzem Lebenslauf von dir beginnen …

Manoj:
O.K. Ich bin 1985 geboren, also sechsundzwanzig jetzt. Ich habe zuhause gelebt bis ich fünfzehn war. Leider konnte ich meine Schulzeit nicht regulär beenden. Wir hatten 1999 in unserer Region einen wirklich starken Zyklon und ich musste deshalb mein Zuhause verlassen.
So kam ich nach Delhi zum arbeiten. Ich war drei Jahre in Delhi und das war eine wichtige Erfahrung für mich. Ich meine, ich habe viel gelitten in Delhi, aber es war tatsächlich eine gute Erfahrung für mich, dass es so kam wie es kam und vielleicht aus diesem Grund bin ich jetzt hier und es geht mir gut.

Manoranjan Chand

Was immer ich mache, ich möchte das Beste machen.

Nicole:
Was sind die ersten Erfahrungen deiner Kindheit ?

Manoj:
Ich erinnere mich sehr genau an ein Ereignis in meinem Leben. Als ich noch zur Schule ging hatten wir eine Art Obstbaum von dem wir kleine Früchte pflückten und ich brachte diese Früchte meinen Freunden in der Schule mit. So erwarteten sie mich immer, weil ich ihnen immer diese Früchte mitbrachte: „Wann kommt Manoj, wann kommt er, wann kommt er endlich?“ Ich erinnere mich immer daran weil ich mich an alle meine Freunde erinnere und wie sie waren.
Obwohl ich meine Heimat vor langem verlassen habe und sie inzwischen natürlich erwachsen sind kann ich mich daran erinnern wie sie gewesen sind als wir noch Kinder waren. Ich erinnere mich an die Gesichter und wie sie mich immer anschauten wenn ich einmal keine Früchte mitbrachte. „Oh, warum hast du keine Früchte mitgebracht, was ist passiert?“ und sie waren nicht so freundlich zu mir. Und beim nächsten Mal musste ich doppelt so viele mitbringen. Das ist es aus meiner Kindheit woran ich mich immer erinnere.
Und an etwas als ich ein wenig älter war, als ich acht Jahre alt war. Weil wir keine Schwester hatten musste ich den Haushalt übernehmen. Ich bin nicht sicher ob ihr es wisst oder nicht: Es ist üblich, dass indische Mädchen den Haushalt übernehmen. Jungen, so wie meine Brüder, gehen spielen oder so, aber ich musste meiner Mutter helfen. Wir waren eine Bauernfamilie, also musste meine Mutter zur Arbeit gehen. Deshalb musste ich sauber machen.
Und ich hatte zwei Kühe, die ich sehr liebte. Und ich ging immer, um Gras für sie zu besorgen. Und eines Tages, als ich ging, um Gras für sie zu besorgen, schnitt ich mir ziemlich schlimm in den Finger. Deshalb konnte ich überhaupt kein Gras für sie besorgen. Wir hatten zwei Kühe.
Ich konnte zwei Tage nichts besorgen. Ich kann mich noch genau an die Gesichter meiner Kühe erinnern, wie sie weinten und was der Grund dafür war.
Was ich sehen kann wenn ich mich an die Gesichter erinnere ist, dass sie wirklich traurig waren und tatsächlich weinten als ich sie sah.
Als ich ihnen zwei Tage lang kein Grass bringen konnte schauten sie immer in mein Gesicht und ich konnte die Tränen sehen.
Zu dieser Zeit war ich acht oder neun Jahre alt oder zehn. Ich erinnere mich sehr stark an diesen Moment.
Und an einen anderen Moment, da war ich tatsächlich schon älter. Ich war zwölf. Ich war kein guter Schüler, weil ich mich immer auf den Haushalt meiner Familie konzentrierte, weil ich unser Haus zu putzen hatte, weil ich mich um die beiden Kühe kümmerte und für meine Familie kochte. Und ich wollte immer das beste Essen kochen.

Was immer ich mache, ich möchte das Beste machen.

So war es auch in meinem Heimatort, wo wir gelebt haben. Das ist wie ein kleines Dorf, wo die Nachbarn, wenn sie kochen, das Essen mit allen Haushalten teilen. Die Nachbarn bringen ihr Essen und ich teile mein Essen mit ihnen, so teilen wir das Essen. Aus diesem Grund wollte ich immer das beste Essen kochen. Deshalb mochten mich die Leute sehr, weil ich das beste Essen kochte. Deshalb putzte ich auch immer sehr gründlich, weil ich immer dachte wenn meine Mutter nach Hause kommt freut sie sich wenn sie sieht das alles sauber und gut geputzt ist. Das ist der Grund warum ich mich nicht mehr auf die Schule konzentrierte, ich war wirklich wie eine Hausfrau. Ich erinnere mich, dass ich wie ein Mädchen war, wie ein indisches Mädchen, meine ganze Kindheit lang. Nicht meine ganze Kindheit, denn ich muss sagen, dass ich mein Zuhause verlies als ich fünfzehn war. Sagen wir bis zwölf oder dreizehn arbeitete ich wie ein Mädchen. Ich pflückte Gras und kochte und ich weiss nicht mehr was sonst noch alles. So ist es in Indien. Ein Mädchen hat all die Dinge zu tun wie eine Hausfrau. Weil ich keine Schwester hatte war meine Kindheit so.

Nicole:
Und wie hat diese Rolle dein Leben beeinflusst ?

Manoj:
Nun, ich denke diese Rolle eines Mädchens hat beeinflusst, dass ich jetzt so lebe wie ich lebe. Ich bin jemand, der es nicht mag zu kämpfen und ich halte mich immer fern von Gewalt. Ich mag es wirklich nicht. Ich fürchte mich tatsächlich sehr, wohin zu gehen wo Gewalt herrscht oder wo jemand streitet. Vielleicht ist es gut so, dass ich so lebe und immer noch ein bisschen wie ein Mädchen bin – immer noch!
Es ist eine schwierige Situation, weil ich als Mann manchmal sein muss wie ein Mann. Und ich bin und war ein Mann, aber manchmal fühle ich mich ein bisschen schlecht weil ich nicht so für Dinge in meinem Leben kämpfe.

Ich denke irgendwie bin ich glücklich so zu sein wie ich bin und über die Erfahrungen die ich in mir trage. Aber manchmal ist es auch schwierig, wegen der Traditionen.

Und die Art wie ein Mann in Indien tatsächlich ein Mann sein muss. Und für alles zu kämpfen hat und stark dazustehen und zu sein hat, weisst du, wirklich stark in diesen Dingen. Und manchmal kann ich es fühlen, ich bin stark genug, aber nicht stark genug für unsere Gesellschaft, weil unsere Gesellschaft ganz anders ist, weißt du, es ist tatsächlich eine Männerwelt in Indien. Ich denke deshalb habe ich manchmal kleine Schwierigkeiten damit.
Auf der anderen Seite fühle ich mich wohl und bin glücklich so zu leben. Die Leute mögen mich und ich habe keine Feinde. Alle meine Freunde, z.B. hier bei der Arbeit, mögen mich und ich habe keine Streitereien und kämpfe niemals mit jemandem. Deshalb mögen mich alle und ich mag alle sehr. Ich denke alles was mir passiert, hat damit zu tun dass ich immer freundlich bin und immer ruhig bin.
Ich glaube das ist der Punkt warum ich wie ein Mädchen wurde. Deshalb denke ich, bin ich so, aber irgendwie ist das schön. Ich meine es ist gut. Ja es ist gut.

Nicole:
Und was passierte, dass du dein Zuhause verlassen musstest ?

Manoj:
Was passierte, war, dass wir 1999 einen Superzyklon in Orissa hatten. Zu dieser Zeit, wie ich bereits erzählt habe, habe ich mich um den Haushalt gekümmert. Meine Familie war keine reiche Familie, weil wir drei Jungs waren und nur mein Vater arbeitete. Was dann passierte, der Zyklon dauerte über vierundzwanzig Stunden und nach dreissig Stunden begann unser Haus zusammenzubrechen und wir mussten in das Nachbarhaus umziehen. Aber während wir umzogen fiel ein Backstein auf den Fuss meines Vaters. Der Fuss war zwar nicht gebrochen, aber mein Vater musste uns allein lassen. Weil er lange nicht ins Krankenhaus konnte, da es immer überfüllt war und niemanden aufnahm schädigte das sein Bein und wir hatten echte finanzielle Probleme.
Ich konnte das nicht mit ansehen und mein älterer Bruder war ein bisschen faul und er kümmerte sich nicht wirklich um diese Dinge. Er fühlte sich nur frei und war mit seinen Freunden unterwegs. Für mich war es schlimm, weil ich meine Familie mag und weil mein jüngerer Bruder noch zu jung war, um ausserhalb zu arbeiten und weil er noch zur Schule ging. Ich war auch noch Schüler aber ich hielt das wirklich nicht mehr aus. Meine Mutter weinte sehr und wir hatten kein Haus zum wohnen, wir mussten unser Haus reparieren und unser Geld ging aus. Ich konnte das nicht mehr aushalten.

Eines Tages beschloss ich fort zu gehen und es war das erste Mal das ich irgendwo hinging.

Ich war fünfzehn und traf einen Bekannten, jemanden der seit langer Zeit in Delhi lebte. Also fragte ich ihn wo ich einen Job bekommen könnte und er sagte: “O.K. Du kommst einfach mit mir.” Und so kam ich zum Arbeiten nach Delhi. Es war wirklich eine harte Zeit.
Ich kam mit dem Zug und ich erinnere mich wie ich zum Zug musste. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen Zug sah. Ich hatte nie zuvor einen Zug gesehen. Ich wusste dass es Züge gab, aber ich hatte in meinem ganzen Leben nie einen gesehen, weil ich in einem Dorf lebte, einem wirklich kleinen Dorf und es ist ca. 60 km vom Bahnhof entfernt. Der Bahnhof ist in einer großen Stadt, aber ich war nie zuvor dort. In eine große Stadt zu gehen und einen Zug zu nehmen, das war wie eine Art Traum für mich.
Ich war nervös, so nervös, weil ich nie von zuhause weg war und ich einfach dem Bekannten folgte. Und stell dir vor, deshalb war er in diesem Moment so etwas wie ein Gott für mich, weil ich ihm einfach folgte, was immer er sagte, wo immer er hinging. Ich hatte keine Vorstellung, weil ich nie von Zuhause weg war. Ich fragte meine Mutter: “Ich möchte gehen.” Aber sie sagte: “Nein du bist so jung, du bist noch nicht mit der Schule fertig und so weiter. Du kannst nicht gehen.” Aber letzten Endes konnte ich es nicht mehr ertragen und ich entschloss mich zu gehen. Und dann entschloss ich mich zu gehen ohne dass es meine Familie wusste. Ich ging einfach so.
Und irgendwie kam ich in den Zug. Der Zug mit dem wir reisen mussten war ein lokaler Zug und es gab eine Art Waggon. Kann sein, wenn man einigermassen komfortabel reisen möchte, ist er für sechzig bis achzig Personen. Ich denke dort waren es zweihundert oder dreihundert Personen. Zweihundert Personen in diesem Waggon für eineinhalb Tage, fast zwei Tage. Wir mussten stehen und konnten nicht auf die Toilette gehen, konnten nichts tun und es gab kein Essen.
Aber es war O.K. weil ich dachte so ist Zug fahren. Ich kannte Zug fahren nicht und deshalb dachte ich: “So ist das Reisen mit dem Zug.”

Und deshalb war es O.K.