Texte Indien 1 | Chandigarh, Dezember 2010
Wir sind in Indien.
Mitten in der Wildnis des indischen Verkehrsdschungels gedeiht ein „Garten“ der Ordnung. Weder die anarchische Strassenhysterie wächst in dem Garten, noch spriesst das wilde Gerangel, das draussen alles bestimmt. Üppiges Hereindrängeln, unberechenbares Schlingern und auch das lästige Hupen sind nur selten zu finden. Sogar der gemeine Egoismus, der doch sonst, besonders auf Asphalt, ungeheure Blüten treibt, findet hier keinen Boden.
Ganz im Gegenteil, mit grossem Eifer werden Klarheit und Sauberkeit kultiviert. Die „Beete“ werden Sektoren genannt. Das sind gross angelegte Rechtecke von über einem Kilometer Länge und entsprechender Breite. Unser CHANDIGARH CITY GUIDE weisst fünfundsechzig davon aus, die Nummer 13 hat man vorsichtshalber ausgespart.
Die strenge Aufgabenteilung der Sektoren erinnert an Monokulturen. Sektor 17 beispielsweise ist zuständig für Shopping, Hotels sind in den Sektoren 22 und 35 untergebracht, während man in den Sektoren 17, 26 und 35 normalerweise essen geht. Gekrönt wird das geordnete Gebilde mit dem CAPITOL COMPLEX am nördlichen Ende, Nummer 1.
Richtig, dieser Garten ist eine moderne, mit Sinn und Verstand gabaute Planstadt. Sie verdankt ihren Entwurf einer radikalen Auslegung von Funktionalität und Effizienz – und der, gewissermassen totalitären Haltung des schweizerisch-französichen Architekten und Städteplaners Charles-Edouard Jeanneret-Gris. Aber vermutlich weil sich den Namen niemand merken konnte, hat er sich später einfach Le Corbusier nennen lassen. Er verwirklichte seinen städtebaulichen Aufbruch in eine neue Zeit Anfang der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.
In Indien ist man sich einig – Chandigarh ist ungewöhnlich – eine City Beautiful.
Auf dem Weg von der pakistanischen Grenze nach Delhi könnten wir auf der kürzeren Strecke des National Highway 1 einfach vorbeifahren. Aber wir sind gerade erst vor einer guten Woche nach Indien gekommen, da kann man doch Besonderes nicht einfach so links liegen lassen – oder.
Chandigarh, am Fuss des Himalaya, wirkt aufgeräumt und sauber, geradlinig, übersichtlich und ein wenig leer, trotz der inzwischen etwa einer Million Einwohner.
Die Stadt fühlt sich dem Fortschritt verpflichtet. Sie spielt wie ehedem die Rolle einer Musterstadt für das moderne Indien. Sauberkeit, Rauchverbot, Solarenergie heissen die Ideale Chandigarhs heute. Gleichzeitig wirkt sie aber in vielem grau, nüchtern und emotionslos.
Liebe Freunde – wirklich wahr – wenn wir dem Ordnungsbedürfnis zu sehr nachgeben, bricht Langeweile aus.
„Ich hab Hunger! …“, höre ich eine energische Stimme neben mir sagen, „…und wenn ich hungrig bin krieg ich schlechte Laune, und wenn ich schlechte Laune krieg …“.
Der städtebauliche Gedankengang wird jäh unterbrochen.
Wir gehen einkaufen bei den Empire Stores im Sektor 17-E.
Der Einkauf wird in Stofftaschen gepackt – natürlich – Plastiktüten sind seit Kurzem aus der Stadt verbannt. Ökologisch inspiriert halten wir Ausschau nach einer Fahrradrikscha. Praktischerweise, für kurze Strecken und besonders mit unzähligen Einkaufstaschen beladen, bedient man sich auch heute noch dieses, koloniale Erinnerungen weckenden, Fortbewegungsmittels. Wir fragen einen, nicht weit vom Feinkost-Store wartenden, Rikschafahrer:
„Was kostet die Fahrt zum Rock Garden?“
Er übergeht die Frage nach dem Preis, bestätigt das Ziel der Fahrt und gibt uns Zeichen, aufzusteigen. Wir zögern:
„Was kostet es? Wieviele Rupies?“
Er nennt achzig Rupies. Für die Herfahrt hatten wir fünfzig zu bezahlen.
„Oh, wir haben weniger erwartet“.
„Es sind immerhin vier Sektoren“, begründet er seine Forderung.
Wir lehnen dennoch ab und gehen weiter. Man soll das Preisniveau nicht leichtfertig verderben.
Kaum dass wir uns ein paar Schritte entfernt haben, hören wir ein einlenkendes „O.K.“ hinter uns – Einverstanden – Wir kehren um und nehmen auf der schmalen Sitzbank hinter dem Rikschafahrer Platz.
Vor uns nehmen wir jetzt erst das ärmliche Äussere und den schmächtigen Körperbau des Mannes wahr. Die Plastiklatschen an seinen Füssen kämpfen vergeblich um einen festen Halt auf den blank gewetzten Eisenpedalen.
Die Rikscha biegt in eine der weitläufigen Strassen zwischen den Sektoren ein. In der Hierarchie des siebenstufigen Wegesystems weit oben stehend, gleicht der Strassenzug einer Landebahn – so breit, lang und leer.
Hin und wieder ziehen, vom Fortschritt des vergangenen Jahrhunderts geprägte, Fassaden vorbei. Monumentale Reliefs aus rohem Beton, wuchtig modelliert, aufdringlich in ihren Proportionen. Architektur, vor der wir uns klein und verloren vorkommen.
Die dürre Gestalt des Rikschafahrers lehnt sich weit nach rechts und links, stemmt sich mit ihrem gesamten Gewicht abwechselnd von einem auf das andere Pedal. Die sinnlose Aufforderung einer roten Ampel, vor einer leeren Kreuzung anzuhalten, verschafft ihm zumindest eine kurze Atempause und die Gelegenheit, sich nach unserem Hotel zu erkundigen.
„Wir wohnen in unserem Auto beim Rock Garden“, antworten wir. Seine Miene wirkt ungläubig. Die Auskunft scheint er eher als sprachliches Missverständnis zu deuten. So wie wir seine Antwort. Auf unsere Gegenfrage, wo er denn wohne, erklärt er:
„Meine Heimat ist weit von hier. In Bihar“.
„Ah – Sorry – Hier meinen wir. Wo wohnen sie hier in Chandigarh?“
„Nirgends. Ich schlafe draussen“.
„Im Freien?“
„No problem“.
„Wie? Auf der Strasse?“
„Ja, bei meiner Rikscha – immer“.
Die bedeutungslose Ampel wechselt auf grün.
Als wir endlich den Rock Garden erreichen, erinnern uns Schweissperlen auf seiner Stirn daran, wie wir unsere Preisvorstellung vorhin so unbeirrbar durchgesetzt haben. Wie er vor uns steht und seine Entlohnung erwartet, scheint er noch etwas schmächtiger geworden zu sein.
Wir geben achzig Rupies … fünfzig für seine Arbeit und dreissig für unser Karma.