Texte Indien 1 | Ganz Indien, Februar 2011
Hinduistisches Denken ist alt und ehrwürdig und bunt wie seine Tempel – und voller Gewaltlosigkeit und erstrebenswerter Tugenden.
Mahatma Gandhi soll auf Albert Einstein´s Frage nach der Bedeutung des üblichen Grusses „Namaste“ geantwortet haben:
„Ich ehre den Platz in dir, in dem das gesamte Universum residiert. Ich ehre den Platz des Lichts, der Liebe, der Wahrheit, des Friedens und der Weisheit in dir. Ich ehre den Platz in dir, wo, wenn du dort bist und auch ich dort bin, wir beide nur noch eins sind.“
NAMASTE liebe Freunde!
In Indien fährt man links und überholt rechts. Wir fahren links, überholen aber nur ganz selten auf dem Weg durch den sonnendurchfluteten Süden Indiens, die palmengesäumte Strasse an der Malabarküste hinunter. Unbeirrt vom unaufhörlichen Hupen und den wahnwitzigen Überholmanövern um uns herum.
Am Anfang erschien uns das Ganze absurd. Das war vor zwei Monaten und wir noch neu auf indischem Asphalt. Um ehrlich zu sein, so wie der ruppige Fahrstil unsere Selbstkontrolle auf die Probe stellte, so stachelte er auch unseren Selbstbehauptungswillen an. Und hier fing der Spaß in Gandhi´s Land der Gewaltlosigkeit an. Um uns nicht ständig als Verlierer zu fühlen, haben wir es immer wieder probiert:
Mal haben wir uns wild durchgehupt, mal haben wir unsere Gegner mit den entscheidenden Millimetern Vorsprung ins Abseits gedrängt, mal sind wir so langsam über die Kreuzung gefahren, dass der idiotische Verkehr fast zusammengebrochen wäre. Alles haben wir probiert und was haben wir bewirkt?
Heute wollen wir von Ruppigkeit nichts mehr wissen. Friedlich lächelnd nehmen wir das aufdringliche Gehupe hinter uns wahr… und… halten unsere Geschwindigkeit, werden bei der nächsten Gelegenheit langsamer fahren um, gut gelaunt, überholen zu lassen – natürlich – weil indische Weisheit lehrt:
„Mitgefühl und Güte ist der höchste Dharma der Guten.“
Hinten wird wieder gehupt. Den nervösen Überholversuch auf der völlig überlasteten Strecke bricht der Hysteriker zum x-ten Mal erfolglos ab.
Wir bleiben gelassen, erfüllt von heiligem Seelenfrieden. Die Palmen sind grün und gelb, dahinter Reisfelder frisch im Wasser. Grün und Wasser bestimmen die Landschaft, in der wir uns bewegen. Wir kurbeln die Fenster ein wenig weiter herunter. Palmen und Reisfelder verströmen lichtvolle Gleichmütigkeit fernab von Hysterie und Hektik.
„Achtung, langsam, da vorne kommt einer!“
„Was?“
„Kommt auf unserer Seite entgegen.“
Wahnsinn, einen Takt lang tanzt Kali, die göttliche Zerstörerin, auf dem Asphalt. Ruckartig, mit einem heftigen Schlenker findet der Entgegenkommende auf seine Spur zurück.
„Lieber langsam in dieser Welt, als schnell in der Anderen“, appelliert eine Tafel am Strassenrand vergeblich. Indien hetzt, als gäbe es kein Morgen. Busse, die blödsinnig über Strassen jagen. Einer ist die Böschung runter gekracht. Betonpfeiler. Er liegt auf der Seite, streckt die Räder hilflos von sich, wie ein Insekt, das nicht mehr auf die Beine kommt. Laster, die Ladung ahnungslos verlieren. Was soll´s? Motorräder, die vor roten Ampeln jaulend lauern und Fussgänger, die dumpf und stoisch alles ignorieren.
Wirr dahintreibende Kräfte … alle miteinander …
Locker bleiben! Unser Zynismus ist doch bloss Häme genervter Traveller.
Hinten hupt es weiter.
„Die fahren wie die Chaoten.“
„Das Risiko ist ´ne Möglichkeit, das Leben intensiver zu spüren“, versuche ich es mit einer psychologischen Deutung.
„Lächerlich. Hauptsache hupen.“
„Ohne Lebensgefahr ist Autofahren im indischen Sinn halt kein Autofahren.“
„Ist doch blödsinnig, sich absichtlich in Gefahr zu bringen.“
„Vielleicht dient es als Erfahrungsquelle. Ob man ankommt oder nicht, spielt im Prinzip keine Rolle, die Kunst liegt darin, zu überleben.“
„Zu überleben? Die spinnen doch.“
„Echte Hindus sterben nur vorübergehend, die wissen, dass sie nachher wiedergeboren werden“, probiere ich einen religiösen Ansatz.
„Wir hatten doch irgendwas gelesen – oder hat es jemand gesagt?“
„…?…“
„Da war doch was von Dharma.“
„Hindu-Dharma? Das heilige Wissen um die kosmische Ordnung?“
„Andere und sich in Gefahr bringen ist einfach dumm.“
„Im täglichen Leben ist für Hindus die Erfüllung des Dharma das Wichtigste.“
„Nix zu spüren von Dharma auf der Strasse.“
„Ich glaube, es hat was mit Verhaltensregeln zu tun. Enthaltung von Gewalt, Zornlosigkeit, Selbstkontrolle und so.“
„Aber manche Sachen scheinen da zu fehlen.“
„Gelassenheit und Nachgiebigkeit.“
„Aber das kann doch nicht soweit gehen, dass wir uns alles gefallen lassen.“
„Doch, genau, das ist der Indien-Modus. Solange du den anderen ihre Fahrweise nicht verzeihen kannst, bist du noch weit weg vom Weg der Weisheit. Man muss sich nur durch die Verhüllungen des reinen Selbst in hocharbeiten.“
„Achtung, da kommt wieder einer.“
Ein Bus überholt, zu langsam, Lichthupe, direkt auf uns zu – zu eng, ausweichen, runter vom Asphalt. Im selben Moment hupen im Stakkato, der Spinner hinter uns hat seine Chance erkannt, drängt, brettert auf dem staubigen Streifenseiten links an uns vorbei. Mist … Tritt in die Bremse, unsere Einkäufe von vorhin rumpeln über den Boden. Die ewige Weltordnung gerät ausser Kontrolle. Irgend etwas Dunkles rauscht in irrer Schräglage auf uns zu, rechts an uns vorbei. Vorbei!
Jäher Absturz aus der Hülle der Glückseligkeit in den emotionalen Körper:
„Hirnverbrannte Arschlöcher, hirnverbrannte!“
Der bewusste Rest meiner geistigen Hülle hält mich vor Schlimmerem zurück.
Verdammt nochmal… Aufatmen… Am Indien-Modus arbeiten… Morgen wieder …