Texte Nepal 1 | Kathmandu, August 2011
Nicole:
Wir springen von deinen persönlichen Schwerpunkten hin zur indischen Literatur.
Was denkst du, wodurch zeichnet sich die gegenwärtige indische Literatur aus?
Gaurav:
Ich kann nicht wirklich einen Kommentar über indische Literatur abgeben, weil sie in vielen Sprachen geschrieben ist. Ich würde sagen das englische Schriften in Indien möglicherweise nur eine Leserschaft eines kleinen Teils der Bevölkerung umfasst. Die aktuelle Situation in der indischen Literatur … ist sehr schwer für mich zu sagen. Ich kann nur die englischen Schriften kommentieren: Ich mag sie nicht. (laughs)
Roland:
Warum?
Gaurav:
Ich denke wir haben vorher darüber gesprochen. Es gibt einige gute Schriftsteller, aber ich denke es ist ein Teil der Tourismusindustrie.
Salman Rushdie schrieb seine ‘Mitternachtskinder’ vor mehr als zwanzig Jahren.
Es handelte über die indische Diaspora, die kulturellen Probleme mit denen ein Inder konfrontiert wird wenn er vom Westen zurückkommt. Er hat einen ‚Schweinsledersack’ – gibt es so was?
Also er kehrt nach Kaschmir zurück und er ist Moslem. Es ist für einen Moslem verboten Schwein zu essen. Das sind die Probleme mit denen ein Charakter konfrontiert ist wenn er nach Indien zurückkehrt. Übrigens, sie machen gerade einen Film darüber. Eine grosse, überwiegend kanadische Produktion.
Aber in zwanzig Jahren hat fast jeder neue indische Schriftsteller über genau dieses Problem geschrieben. So zeigt sich klar, dass das Schreiben auf einem konventionellen Markt stattfindet. Es gibt schon einen Markt für dieses Sujet. Und es wird in erster Linie von Leuten ausserhalb Indiens gelesen.
Und wenn du Autoren liest, auch wenn sie so gut bekannt sind wie in dieser indischen Literaturszene, ist es offensichtlich, dass sie für ein Publikum schreiben welches nicht indisch ist. Weil wenn sie etwas schreiben wie ‚Roti’ und dann in einer Fussnote erklären ‚Was ist Roti?’ Ich meine, kein deutscher Schriftsteller würde sagen ‚Ja, er isst sein Brot’ und dann erklären ‚Was ist Brot?’ Ja, jedermann kennt Brot. Und jeder Inder kennt Roti. Es ist für ein westliches Publikum.
Deshalb denke ich, dies ist das Problem der englischen Schriftstellerei in Indien, es hat sich in eine Richtung entwickelt, wo jedermann … ich meine es ist eben allzu offensichtlich … Warum sollten zwanzig Jahre Schreiben um dieselbe Erfahrung kreisen?
Es ist so deutlich, dass sie offensichtlich ein Marktbedürfnis erfüllen.
Es gibt möglicherweise einige Schriftsteller die bessere Ausdrucksformen finden. Und ich bin sicher, dass aus der regionalen Schriftstellerei gutes Material hervorgeht.
Ich habe einen indischen Schriftsteller gelesen. Ich war kaum in der Lage … weil, ihr wisst, noch mal … ich bin englisch sprechender Inder. Ich meine, ich kann es lesen … aber von all diesen Schriftstellern … wie diesen Einen, den ich wirklich schätze.
Es gibt vielleicht wirklich gute Schriftsteller da draussen. Aber sie sind nicht so bekannt. Tatsächlich ist das Problem, wenn du in Buchläden in Indien gehst, wirst du die regionalen Sprachen nicht finden. Weil die wichtigsten Buchläden nur englische Bücher verkaufen.
Wo sind diese Bücher also?
Es gibt sie. Aber du musst in einige spezielle, kleine Läden gehen und danach suchen. Sie sind nicht in den Hauptgeschäften. Ja, ich denke es ist ein grosses Problem. Weil jedermann auf der Welt sagt englisch geschreiben – Indien, Indien, Indien.
Aber sie sehen tatsächlich auf eine sehr kleine Auswahl … ich beschreibe auch das Problem … ich sage euch das zum Beispiel … ich weiss nicht ob ihr den Film ‚Frida’ je gesehen habt. Er handelt von der Malerin Frida Kahlo. Und es ist eine Hollywoodproduktion. Habt ihr ihn gesehen?
Roland:
Zwei Teile, ja, es sind zwei DVD’s.
Gaurav:
Ja, es ist ein langer Film. Und ich mag ihn.
Weil ich die Malerin mag. Ich mag ihr Werk.
Ich habe ihn absolut gemocht. Ich habe mit einem Mexikaner darüber geredet. Vor drei Jahren traf ich diesen Mexikaner in Dehli. Und wir sprachen über eine Menge Sachen und er sprach darüber wie die Mexikaner ihn hassen. Und ich fragte warum. Er sagte, weil Frida niemals englisch sprechen würde. Und für die Mexikaner war es sehr wichtig, dass jemand wie Frida Kahlo nicht englisch sprechen sollte. Aber ich habe das nicht bemerkt, weil ich kein Mexikaner bin. Ich weiss davon nichts.
Es ist wie ‘Slumdog Millionär’. Das war ein englischer Regisseur – ,Danny Boyle’ – der kam und diesen Film machte. Es war OK bis dieser Slumdog in diesem lieblichen Englisch zu sprechen begann. Und er sagte nur, weisst du … ich meine, das ist ein Problem dem der Schriftsteller gegenübersteht. Aber dann hast du herauszuarbeiten wie die Welt innerhalb des Textes oder innerhalb des Films funktionieren wird.
Was ich versuche, ich versuche Sprache zu transzendieren indem ich sie in Verbindung mit einer Situation bringe.
Warum? Wenn ich Delhi sage begrenze ich mich. Dann muss ich es in Hindi sagen.
Es ist wie bei einem Märchen. Ein Märchen kann in jeder Sprache sein. Ja? Es ist eine andere Welt. Es kann seine eigene, sogar unsinnige Sprache haben.
So, ja, so ist es das Gleiche in der englischen Literatur. Sie wird im Westen sehr geschätzt weil sie es nicht wissen. Du sprichst im Allgemeinen über den westlichen Eindruck von Indien und … es geht in beide Richtungen … den Eindruck der Inder vom Westen.
Der Osten und der Westen.
Ich weiss nicht, es gab ein wirklich interessantes Buch, von einem Palästinenser geschrieben. Edward Said. Ihr müusst von ihm gehört haben. Er schrieb ein Buch mit dem Titel ‚Orientalismus’. Es ist eine sehr interessante geschichtliche Zusammenfassung darüber, welche Vorstellungen sich der Westen vom Osten zu machen begann. Und es kam zur Kolonialisierung, es entstand die Indologie.
Und jeder, wie die Deutschen zum Beispiel, deren Beteiligung war nicht so sehr die Kolonialsisierung selbst, weil die Briten kamen und kolonialsisierten, als vielmehr durch die Texte.
Intellektuelle Kolonialsisierung.
Durch Leute wie Max Müller oder Renan oder so viele andere dieser Indologen.
Diese begannen Vorstellungen darüber zu formulieren was hinduistische Religion ist.
Und tatsächlich, ich denke die erste Übersetzung der ‚Veda’ ins Deutsche erfolgte durch Max Müller. Ich meine die erste westliche Übersetzung. Er hat sie auch ins Englische vorgenommen. Max Müller war Deutscher, aber er wohnte in Cambridge, er war in England. So hat er einmal die so genannten ‚Heiligen Bücher des Ostens’ geschrieben. Es ist eine ganze Serie. Tatsächlich gebrauchte mein Grossvater sie und ich habe sie bekommen.
Es ist interessant, weil sogar heute …
Ich habe Material zur Veröffentlichung geschickt, und sie sagten ‚Es ist nicht indisch genug’.
Und was bedeutet ‚indisch genug’? Weil ihr offensichtlich diese bestimmten Vorstellungen davon schon hattet. Ich gebe es euch zum Lesen.
Es ist so komisch weil es bedeutet einen Mangobaum zu haben. Es bedeutet diese Götter zu haben, diese vielarmigen Götter. Ihr wisst schon, ein paar indische Wörter, die dieses bestimmte ‚Masala’ geben. Und der Westen liebt es.
Weil es für sie Reisen bedeutet. Und ich muss sagen, es sind keine literarischen Mittel. Für mich ist es vielleicht eine Reise, in Sibirien irgendwohin zu gehen. Aber ich weiss, wenn man Inder ist, ist es keine so grosse Sache wenn jemand Roti daherbringt: ‚Sie stellte ihr Roti her’. Was soll’s? Ich meine, wir machen jeden Tag Roti, es ist eine Alltagserfahrung, wisst ihr, das ist es.
Ja.
Ich denke, das ist eine allgemeine Bemerkung. Ich meine, ich habe mich für diesen indischen Schriftsteller interessiert der sagt … ich denke auch an eine formale Erneuerung des englischen Schreibens in Indien. Ihr wisst, man muss eben Englisch können.
Wir haben sehr koloniale Vorstellungen von der Sprache.
Wir nutzen sie nicht sehr experimentell. Weil es auch irgendwie nicht unsere Sprache ist. Wenn du damit experimentieren willst, ist nicht der Status Quo. Wisst ihr, nur ein Teil einer bestimmten Schicht von erwachsenen Indern kann gut Englisch. Sie können Englisch wirklich gut, aber benutzen es niemals experimentell. Es mag ein paar geben in dieser ganzen Gruppe, wie diesen wunderbaren Vikram Seth, der wahrscheinlich ein Stück besser ist als all die anderen – in Bezug auf ehrliches Experimentieren.
Aber generell ist das mein Gefühl bezüglich des englischen Schreibens in Indien. Aber ich kann nicht sprechen für … ich kenne zum Beispiel … ich habe diesen einen tamilischen Schriftsteller gelesen – brillant. Aber sein Buch wird für zehn Rupien in kleinen Buchläden verkauft. Wisst ihr, das sind nicht die schönen Buchladen. Sein Material ist wirklich gut, sehr experimentell. Ich habe niemanden jemals so schreiben sehen. Ich meine, er ist einer meiner Favoriten, aber er ist sehr gut.
Ich bin sicher, dass in den regionalen Sprachen, weil nicht so viel Geld mitspielt, kein Bedarf an Angeberei besteht. Da spielt keine Kommerzialisierung mit. Die Leute werden keine Millionäre mit ihren Geschichten. So können sie sich eher darauf konzentrieren was sie wirklich ehrlich sagen wollen.
Nicole:
Wenn du eine Million Euro hättest, was würdest du tun?
Gaurav:
(lacht) Ich weiss nicht … Ich denke … mit einer Million Dollar? … Ich denke, ich würde einen Grossteil meiner Mutter geben.
Soll ich die Frage ernsthaft beantworten?
Roland:
Ja.
Gaurav:
Ich würde einen Grossteil meiner Mutter geben. Sie möchte eine Schule eröffnen. Von dem Geld könnte also ein grosser Teil an sie gehen, um die Schule aufzubauen. Sie ist Direktorin einer Schule, aber es ist nicht ihre eigene Schule. Es war immer ihr Traum, ihre eigene Schule zu haben. Aber sie hatte nicht soviel Geld, um ein Grundstück zu kaufen und ihre eigene Schule zu eröffnen. Wenn dieses Geld jemals käme, das wäre das erste Projekt.
Roland:
Welches indische Buch würdest du uns empfehlen? Vielleicht Arundhati Roys Der Gott der kleinen Dinge?
Gaurav:
Mögt ihr es?
Roland:
Wir haben erst hundert Seiten oder so gelesen. Wir mögen die Sprache, ja. Aber wie du sagst, es klingt eher kommerziell.
Was hältst du davon?
Gaurav:
Seht, Arundhati Roy, sie ist wahrscheinlich besser als der Rest, würde ich sagen. Ich persönlich mag es nicht, aber das ist persönlicher Geschmack.
Für mich bersten zu viele Mangos, es ist zu fruchtig, zu flüssig, zu viele Blumen und Früchte.
Aber das ist mein Geschmack. Ich kenne das Buch nicht genug, weil ich die zweite Seite geöffnet und es dann weggelegt habe. Weil es zu sehr begann … ich möchte nicht mit einer Familie in Kerala leben, und…
Aber, wisst ihr, ich denke das ist eine sehr persönliche Sache. Ich weiss nicht was ihr mögt. Einen englisch schreibenden Inder, um ehrlich zu sein, ich habe keinen gefunden den ich wirklich mag.
Und ich bin ziemlich sicher, wenn ich mehr übersetzte Schriften finden würde … so wie ich den aus Tamil Nadu gefunden habe, der einiges sehr Interessantes macht. Ich mag nicht alles davon, aber zumindest versucht er einen neuen Weg eine Erfahrung darzustellen, und ich kann euch ein wenig davon per E-mail schicken, ihr könnt es lesen. Es ist so gut gemacht und es ist so ein interessanter Weg.
Aber ich kenne wirklich nicht einen indischen Schriftsteller der … aber, wisst ihr, ich meine ihr könntet sie in einem bestimmten Sinn alle mögen. Es ist eine Frage des Geschmacks. Für mich, wie Kafka gesagt hat, ist … er schrieb, ich kenne es auf Englisch , er sagte etwas wie:
‚Das Kunstwerk sollte wie die Axt im Eis sein’.
Ich bin also eher einer der ‚harten Sorte’. Ich möchte herausgefordert werden wenn ich lese. Ich mag kräftige Sachen. Ich denke, im indischen Schreiben auf Englisch gibt es einige sehr interessante Geschichten, sehr einfach erzählt, sehr ruhig. Und ich meine, wenn sie kommen und dich herausfordern, dann geschieht dies sehr friedlich.
Es gibt da einen mit dem Namen … was war gleich sein Name … egal, vergesst es … ich habe das Buch gelesen, es war eine schöne Geschichte, aber nur schön. (lacht) Für mich ist es nicht genug.
Nicole:
Und wenn nicht ein indisches, was würdest du empfehlen? Was also ist dein Lieblingsbuch im Moment?
Gaurav:
Ich mag eins dass ich gerade lese, es ist mein Lieblingsbuch, aber es ist nicht erhältlich in Indien. Es heisst ‚Motorman’. Das ist das neueste Buch dass ich mag, von David Ohle.
Ursprünglich in den Siebzigern veröffentlicht, aber in 2008 gerade wieder aufgelegt. Aber ein sehr Interessantes. Kennt ihr William S. Burroughs? Er war ein Zeitgenosse von Burroughs. Etwas in der Art von William S. Burroughs, aber Burroughs hatte mehr ‚Beat’.
Diese ist eher Science Fiction, aber nicht typisch Science Fiction, es ist etwas anders. Seine Figur ist … es ist grossartig. Es ist sehr einfach, es ist ein sehr kurzes Stück. Manchmal würdest du dich freuen, mehr davon zu bekommen, aber das geht nicht, weil es vorher zu Ende ist. Es ist eine Sucht. Ich meine, jedes Wort ist sorgfältig ausgewählt worden. Es sind nicht so viele Wörter, aber sie sind gut destilliert. Ich meine, es ist sehr wichtig für mich: ‚wie destilliert’.
Unnütze Wörter sollten nicht da sein.
Nicole:
Wir danken dir für das Gespräch.