Gaurav [Teil 1 - Deutsch]

Texte Nepal 1 | Kathmandu, August 2011

Wir trafen Gaurav Monga im August 2011 im Stadtviertel Jhamsikhel in Kathmandu.

Gaurav:
Also, ich bin in Delhi geboren und bis zur sechsten Klasse war ich in Delhi. Und dann war ich in Südindien an einer Schule dort, und bis zur zehnten Klasse war ich dort. Und dann ist meine Familie in die USA umgezogen. So habe ich also kurze Zeit in Delhi gewohnt und dann in Südindien, in einem kleinen Dorf auf einem Hügel und dann sind wir umgezogen. Und ich habe an zwei Orten dort gewohnt in Amerika. Ich habe fast fünf Jahre dort verbracht. Und dann bin ich zurückgekommen nach Indien und ich habe in verschiedenen Städten hier gewohnt. Ich habe inzwischen studiert in Delhi und Deutsch gelernt in Puna und hier und dort gearbeitet, zum Beispiel in Hyderabad, Bangalore, Achmedabad. Die letzte Station war in Delhi und jetzt sind meine Freundin und ich in Nepal in Kathmandu.

Gaurav Monga

Roland:
Du bist Inder, bist du demnach auch Hindu?

Gaurav:
Ja.

Roland:
Ist das wichtig für dich?

Gaurav:
Die Religion?
Es ist so, eigentlich ist der Hinduismus ein bisschen fremd für mich. Ich stamme aus einer Hindu-Familie, aber meine Grosseltern und meine Eltern haben mich nicht religiös erzogen. Ja, natürlich weiss ich, dass solche Götter existieren und es zum Beispiel Feste gibt und so weiter. Aber Hinduismus bedeutet eigentlich nicht viel für mich. Mein Name ist hinduistisch aber ich bin eigentlich wirklich kein Hindu.

Nicole:
Als was würdest du dich bezeichnen? Konfessionslos? Atheistisch?

Gaurav:
Nicht atheistisch, ich glaube an Gott, aber er soll nicht zu einer Religion gehören. Gott kann ohne Religion existieren.
Ich glaube und ich glaube an Gott. Ich glaube an die Wichtigkeit des Glaubens an Gott.
Ist das verständlich?

Roland:
Ja. Es ist eine sehr philosophische Sichtweise.

Gaurav:
(lacht) Ja vielleicht … vielleicht ja. Es kann sein … philosophische Sichtweise.
Aber ja … ja, die Rituale zum Beispiel, die zu meiner Religion gehören, die habe ich nie mitgemacht. Und deswegen – wenn jemand mir sagt ‚Du sollst es tun’, weil ich Hindu bin – da ich nicht mit diesen Ritualen aufgewachsen bin sind sie mir fern, sie sind nicht für mich.

Roland:
Ist das typisch für die neue Generation in Indien?

Gaurav:
Ich glaube, dass es mit den Schichten zu tun hat. Ich komme aus einer reichen Familie.
Und ich glaube, die reichen Familien haben die Religion irgendwie aufgegeben.
Aber ich glaube, dass für die mittleren Schichten die Rituale noch bleiben. Obwohl Indien modernisiert ist. Vielleicht hat sie nachgelassen, die Beachtung der Rituale und des Glaubens. Aber die meisten meiner Freunde zum Beispiel kommen aus der mittleren Schicht. Und was ich beobachtet habe ist, dass sie an Gott glauben. Es hat nicht nur mit dem Glauben zu tun, sondern sie machen diese Rituale auch. Für sie ist es wichtiger.
Und ich glaube das gilt nicht nur für Hindus, das gilt auch für Moslems, wie ich gesehen habe.
Die Leute, die zur mittleren Schicht gehören, befolgen die Rituale mehr, zum Beispiel fasten sie.
Wie ich beobachtet habe, hat die obere Schicht irgendwie, irgendwann die Religion … ja …aufgegeben.

Roland:
Du sprichst von Schichten und das ist nicht Kaste?

Gaurav:
Nein, nicht Kaste.

Roland:
Kasten spielen keine grosse Rolle mehr?

Gaurav:
Nein, nein, sie spielen eine Rolle. Aber der Brahmane _ zum Beispiel glaubt an Gott. Der Schudra _(Handwerker, Tagelöhner) glaubt auch an Gott. Sie sind nur Schichten der Gesellschaft und was sie tun, kann etwas anderes sein. Aber sie beide glauben an Gott in ihrer eigenen Schicht. Aber wenn ich über ökonomische Schichten spreche … das sind zum Beispiel die meisten, die reich sind, auch wenn sie vielleicht nicht zu einer höheren Kaste gehören, haben sie irgendwann den Glauben an Gott aufgegeben. Aber das ist in einem Sinn eine Verallgemeinerung. Es gibt natürlich Reiche, die auch alles befolgen.
Aber was ich gemerkt habe, die Reichen, die Teil dieser modernen Gesellschaft sind, wollen von den Ritualen weg, sie wollen das neue Leben. Aus verschiedenen Gründen, es gibt Vieles – amerikanisch zum Beispiel – viel westliches Denken, dass auf vielen Wegen eingeführt wird. Zum Beispiel hat das auch mit Klamotten zu tun und mit der persönlichen Unabhängigkeit. Viele denken, OK, ich muss nicht heiraten und solche Sachen. Wie ich sehe bleibt das in der mittleren Schicht noch so. Man muss heiraten, man muss den Eltern folgen.

Roland:
Was bedeutet das für dich?

Gaurav:
Ja, es ist auch für mich sehr interessant. Ich bin ein bisschen ‚anglisiert’ … ja. In den Schulen zum Beispiel, die ich besucht habe, wurden alle Hauptfächer auf Englisch unterrichtet. Und irgendwie war die Kultur mehr englisch oder amerikanisch. Die erste Schule hiess ‚British School’. Und die Leute waren international. Die Schule existiert noch. Später habe ich in dieser Schule auch unterrichtet als Lehrer. Und es gibt die Diplomaten, die in dieser Gegend wohnen. Es gibt Leute aus fast allen Ländern, aus Europa, aus Asien, aus Afrika.
Und als ich nach Amerika umgezogen bin, war es nicht so fremd. OK, ich bekam auch schon in meinem Heimatland eine Ahnung von dieser Kultur, ja … ich hatte schon eine Ahnung.
Aber ich war auch im Süden von Amerika. Für Amerika ist das auch eine ‚untere’ Kultur, irgendwie existiert auch eine Subkultur. Der Süden unterscheidet sich auch vom Norden in Amerika. Sie sprechen anders, sie haben ihre eigenen Schichten.
Als ich zurückgekommen bin, war es das erste Mal, dass ich das echte Indien gesehen habe.
Weil ich plötzlich in Puna war und die Leute, mit denen ich zusammen gewohnt habe, waren hauptsächlich aus Dörfern und sie sprachen kein Wort Englisch. Und niemals habe ich in meiner Zeit in Indien einen Inder, mit dem ich befreundet bin auf … es ist eigentlich ein bisschen komisch … OK, Hindi kann ich, weil es in einem Sinn meine Muttersprache ist … was eigentlich Punjabi ist. Aber wir sind so aufgewachsen, dass in der Schule Englisch gesprochen wird. Auf Englisch lernt man und spricht auch mit den Freunden Englisch und mit den Eltern. Und ich habe nur mit den Leuten, die kein Wort Englisch können, Hindi gesprochen. Das heisst zum Beispiel Arbeiter, die kein Englisch gelernt haben. Das heisst meine Oma zum Beispiel, sie konnte kein Englisch.
Als ich zurückgekommen bin habe ich gesehen, dass es Leute gibt, die ganz anders sind.
Und irgendwie war das für mich auch in meinem eigenen Land ein Kulturschock.
Aber es war gut und diese Leute waren sehr freundlich, wirklichkeitsnäher nach meiner Meinung. Und einige dieser Leute sind Freunde geblieben.
Aber ich hatte Heimweh, ich wollte zurück nach Amerika. Weil ich gedacht habe, dass ich dort studieren werde und dann vielleicht dort arbeiten werde. Und dann bin ich zurückgekommen zu diesen Leuten, die mich nicht verstanden. OK, natürlich konnte ich damals Hindi – aber nicht so gut. Und ich war nicht daran gewöhnt, normalerweise auf Hindi zu reden. Es ist eigentlich ein bisschen komisch, nein … oder ironisch, ja. Es sollte eher meine Muttersprache sein. Aber nach und nach habe ich verstanden.
Ich kann mich an eine Erfahrung sehr gut erinnern. Ich bin zurückgekommen in der ersten Woche in 2001 … ich spreche zuviel, oder? (lacht) … und es war wirklich komisch. OK, mein Cousin hat mich eingeladen, es gab eine Geburtstagsfeier für seinen Freund. Ich kenne seinen Freund, sein Freund war auch mein Freund, OK, Bekannter, ein guter Mensch. Und ich bin hingegangen. Und es gibt solche Situationen, die Leute zum Beispiel, sie gehören zu den höheren Schichten der Gesellschaft, sie gehören zu den Reichen. Und … ja, ich war so gelangweilt, ich hatte nichts mit den Leuten zu reden.
Sie reden über Kleider oder … ja ich weiss nicht, es war so eine ganz dumme Sache für mich.
Und … was? … worüber redest du? Ja … ich weiss, ein Mädchen hat mir ihren Arsch gezeigt und gefragt ‚Sehe ich gut aus?’, sie kannte mich gar nicht. OK, und ich fragte ‚Was? Du kennst mich nicht, warum zeigst du mir deinen Arsch?’ (lacht) Und es war etwas komisch. Und es gibt die Leute, die dort arbeiten als Putzfrauen und zum Beispiel der Koch und andere. Und ich habe den ganzen Abend mit diesen Leuten verbracht. Nicht mit meinen so genannten Freunden oder Bekannten. Weil ich so gelangweilt war und auch ziemlich betrunken. Und ich wollte mit diesen Leuten einfach nicht reden – sie redeten mit mir über nichts.
Und zu diesem Zeitpunkt habe ich erkannt, dass ich die mittlere Schicht besser verstehen konnte. Sie haben die gleichen Probleme. Sie sind mehr ‚geerdet’. Die Reichen sprechen nur über Discos und Trinken und sie besuchen nur zwei Länder: Amerika und England. Und das ist für sie die Welt … ja … es ist kein Urteil in dem Sinn. Aber damals habe ich erkannt, obwohl ich in dieser Schicht geboren und aufgewachsen bin, habe ich keinen Bezug mehr zu dieser Schicht in Indien. Und weil ich während dieser Zeit in Puna war musste ich gut Hindi lernen, weil diese Leute kein Wort Englisch sprechen. Aber sie waren Freunde und ich wollte … ich konnte verstehen – es war nicht so, dass ich nicht verstehen konnte – aber nicht so gut, dass ich es selbst sprechen konnte. Das war interessant. Aber auch beim Schreiben. Wenn du sagst, OK, ich bin Schriftsteller. Das war immer das Problem mit der Sprache. Ich bin Inder, ich wollte indische Situationen schriftlich wiedergeben. Aber manchmal ist es unmöglich. Weil ich auf Englisch schreibe und diese Situation in Englisch einfach nicht existieren. Das ist immer das Hindernis. Es ist eine Herausforderung. Weil ich herausfinden muss, wie ich das umschreiben kann, wie ich es herausarbeiten kann.
Ich will nicht oberflächlich sein, nur einfach die Entsprechungen oder Fast-Entsprechungen suchen.
Aber irgendwie muss ich diese Situationen zeigen, die nicht … zum Beispiel in einer Geschichte, die ich geschrieben habe, die letztes Jahr veröffentlicht wurde. Ich zeige einen Markt, der in meinem Gedanken in Delhi ist. Aber wenn ich sage, dass es in Delhi ist, dann muss ich die Sprache oder die Dialoge auf Hindi bauen. Aber ich habe ihn nur ‚Markt’ genannt. Es gibt alles in meiner Vorstellungskraft was zu diesem Markt gehört, aber seinen Namen habe ich nie geschrieben. So kann es immer ein Markt der Vorstellungskraft bleiben. Es braucht nicht nur in Delhi zu sein, obwohl die ursprüngliche Idee, die ich im Kopf hatte, Delhi war.
So hat Sprache und Zurückkommen und Kultur und alles auch mit meinem Schreiben zu tun, weil es immer Probleme gibt. Viele Situationen werden in meinem Gehirn auf Hindi besser zum Ausdruck gebracht, aber … na ja … ich kann die Sprache nicht so gut.