Texte Kasachstan | September 2010
Ja, wie lange eigentlich?
Es gibt Landschaften, die wirken so eintönig und endlos, dass einem die Dimension der Zeit abhanden kommen kann.
Unveränderlich zieht die Graslandschaft seit Tagen mit dem Fahrtwind an uns vorbei. Es passiert nichts, es gibt nichts zu sehen, auf nichts aufmerksam zu machen. Vorher und jetzt, gestern und heute verfliessen in einem ungenauen Gefühl von Zeit- und Ereignislosigkeit. Momente der Gegenwart sind von Momenten der Vergangenheit kaum mehr zu unterscheiden. Die Monotonie stiehlt einem gewissermassen das Erlebnis der Zeit.
Die kasachische Steppe ist so eine Landschaft.
Zur Erinnerung:
Kasachstan ist fünfmal so gross wie Deutschland. Wüsten und salzige Steppen mit dürrem Bewuchs nehmen über vier Fünftel der Fläche ein. Somit ist, wenn man diese bei der Schöpfung etwas zu kurz gekommenen Gegenden zusammennimmt, ein Gebiet aus Sand und Kies, viermal so gross wie Deutschland, zu durchqueren. Ein riesiger Sandkasten für Overlander!
Von Usbekistan kommend, reisen wir im Süden Kasachstans ein. Aber bevor wir eintauchen in die enorme Weite, wollen wir uns in den westlichen Ausläufern des Tian Shan (Himmelsgebirges) umsehen. Es markiert hier den zerklüfteten Grenzverlauf zwischen Kasachstan, Usbekistan und Kirgistan. Zerfallene Naturwege und Saumpfade ermöglichen die Erkundung zu Fuss. Wir wechseln von Reifengummi auf Sohlengummi (wieder ein lustiges Wortspiel).
An vielen Stellen allerdings verhindern Barrieren und angsteinflössende Schwerbewaffnete den Zugang in die grenznahen Täler. Wir stoppen direkt vor dem spiralförmig über die Strasse gerollten Stacheldraht.
Ob wir russisch sprächen, glauben wir gefragt zu werden.
„Ruski njet“ erwidern wir achselzuckend. Wir versuchen es auf Englisch, vorsichtshalber auch auf Deutsch.
„Germani?“ fragen die Soldaten.
„Germani, ja!“ bestätigen wir hoffnungsvoll, als ob das den Durchgang erleichtern könnte.
„Eine kleine Wanderung, nichts weiter“ erklären wir.
Nach einem forschenden Blick in unsere Pässe gibt man uns zu verstehen, der Durchgang sei für uns nicht möglich. Das ärgert die entschlossenen Wanderer, deren Vorhaben nicht zum ersten Mal so kriegerisch durchkreuzt werden – und die es nicht wahrhaben wollen. Wir fragen nocheinmal, stellen und erst überrascht, dann enttäuscht, dann verständnislos, schliesslich zornig:
„Gesperrt? … „Was für Genehmigungen?“ … „Nur für Einheimische?“ … „Wo denn dann?“ … „Ist doch Mist!“
Sie bleiben unnachgiebig. Wieder werden wir zurückgewiesen. Die erforderlichen Sondergenehmigungen haben wir nicht. Und weil gegen Maschinengewehre, wie wir einsehen, eh nichts zu machen ist, verabschieden wir uns, betont höflich mit der Hand winkend und gleichzeitig – na ja – hinterhältig schimpfend (die Soldaten verstehen kein Deutsch):
„Ihr seid komische Vögel – schöne Spinner!“
Zugegeben, gewöhnlich dienen Gesten zwar der Unterstützung mündlicher Kommunikation, zur Frustkompensation bietet sich jedoch der seltenere, aber hilfreiche Einsatz der widersprüchlichen Gestik an. Das eine zeigen und das andere sagen. Freundliche Geste und bissige Worte. Die irreführende Kombination widersprüchlicher Verständigungsmittel – oder besser Missverständigungsmittel – hilft auf geheimnisvolle Weise, Enttäuschung und Machtlosigkeit zu bewältigen. Das erzeugte Gefühl von heimlichem Protest und versteckter Beschimpfung ist einfach wohltuend.
Nichtsahnend nimmt der Uniformierte unseren vermeintlich höflichen Gruss auf und erwidert ebenso freundlich winkend:
„Spinner“.
Liebe Freunde, sollte während eures nächsten Zentralasien-Aufenthalts euch je jemand mit ‚Spinner’ verabschieden, dürft ihr das bitte nicht persönlich nehmen. Wir bedauern aufrichtig, durch unser unkorrektes Verhalten die Entstehung dieses neuartigen Abschiedsgrusses ausgelöst zu haben.
Einen freien Zugang ohne Militärposten bietet dass Strässchen, vom kleinen Ort Tonkerıs aus dem Flusslauf des Sayram-Su aufwärts folgend, zum Aksu-Zhabagly Naturreservat. Die Gegend ist ansonsten noch kaum erschlossen. Die Asphaltstrassen hören auf, wo die Topographie den Bau schwierig macht und gut ausgebaute Verbindungen nicht so wichtig sind. Die Einsamkeit der Bergregion ist umso beeindruckender.
Es ist Anfang September. Die Sonne nimmt einen immer kürzeren Weg, die Schatten werden kühler und man spürt, es wird allmählich Herbst. In den Hochtälern beginnt die Natur ihre Farbigkeit von grün auf das Spektrum von gelb bis rot zu erweitern.
Wir nehmen uns ein paar Tage Zeit und erkunden manche der urigen Pfade, die durch Birken- und Wacholderwälder tief ins Gebirge verlaufen. Eilig, von wem auch immer, zusammengenagelte Stege, grob misslungenen Holzleitern ähnlich, oder einfach nur hinüber gelegte Baumstämme helfen, die glasklaren und eiskalten Gebirgsbäche zu überqueren. An keiner Stelle verderben Wegmarkierungen oder Schilder dem entdeckerisch veranlagten Wanderer die Spannung. Wir werden mit einem faszinierenden Stück Abgeschiedenheit und auf sich selbst gestellt sein belohnt.
Abends diskutieren wir die denkbaren Routen durch Kasachstan. Bis zur russischen Grenze sind es rund zweieinhalbtausend Strassen- und Pistenkilometer. Wir sammeln alle verfügbaren Hinweise und versuchen uns eine ungefähre Vorstellung von den alternativen Streckenverläufen zu verschaffen.
Wieviel Kilometer am Tag sind machbar?
Welche Sand-, Schotter-, Schlaglochstrecken sind zu erwarten?
Skepsis aufgrund unerwarteter Probleme und Hindernisse ist noch immer die empfehlenswerteste Haltung bei der Routenwahl in Zentralasien. Polizeikontrollen sind so häufig wie Schlaglöcher.
Unbedingt Reserven einplanen!
Wir suchen nach Angaben über den Zustand der Strecken, Hinweisen darauf, wie schnell man fahrzeugschonend vorankommen kann.
„Wer sein Pferd unnötig treibt, muss am Ende zu Fuss gehen“ weiss man in Kasachstan.
Die Klassifizierung durch farbige, verschieden breite Linien auf der Landkarte hilft nicht weiter. Sie zeigt meistens nur die theoretische Bedeutung einer Strasse an. Zur Beschaffenheit oder Befahrbarkeit dagegen verrät sie nichts. In Wirklichkeit sind sie nicht selten unerfüllte Versprechen. Landeskundliche Kenntnisse finden halt auch nicht immer ihren Weg in brauchbare Strassenkarten.
Wenn wir gut vorankämen, könnten wir den Umweg zur Halbinsel Mangyschlak am Kaspischen Meer schaffen – zumindest hofften wir das.
Am Ende, aber das ahnen wir heute noch nicht, hat uns die gewaltige Steppe zu einigen Abstrichen gezwungen, ihre unglaubliche Weite dafür um einiges näher gebracht.
Wir machen uns auf den Weg.
Durch die Ebene des Syrdarja:
Turkistan mit dem sehenswerten Mausoleum des hochverehrten, islamischen Propheten, Poeten und Mystikers Hodzha Achmed Jassawi.
Die fast vergessenen Mauerreste der sagenhaften Festungsstadt Sauran.
Leise im Wind tönende Stelen im beeindruckenden Denkmalkomplex für den Musiker, Philosophen und Erzähler Khorkhyt Ata.
Der verwüstete Aralsee. Monumentale ökologische Katastrophe aus technokratischer Masslosigkeit.
Durch das Tiefland von Turan:
Der Fluss Ural, ganz im Westen Kasachstans. Er meidet von Natur aus die hervorgehobene Stellung. Er ist weder der längste, noch führt er die grösste Wassermenge oder wetteifert um den Status des ausgedehntesten Mündungsdeltas. Auch hat er keine tiefsten Schluchten geformt und von einem heiligen Ursprung haben wir nicht gehört. Superlative sind ihm fremd. Er ist ein durch und durch gemässigter Fluss, der seine vorrangige Pflicht darin sieht, gemeinsam mit seinen Zuflüssen, Wasser im Gebirge einzusammeln und ins Meer zu befördern.
Und doch wurde er bestimmt, als Trennlinie zwischen Europa und Asien zu dienen. Dabei hat er ja, wie gesagt, gar nicht das überzeugende, geographische Auftreten eines Ozeans, von denen anständige Kontinente gewöhnlich umgeben sind. Es wird argumentiert, man müsse sich in diesem Fall, mangels besser geeigneter Kandidaten, eben mit der Behelfslösung zufrieden geben.
Und der Ural? Er versucht der für einen bescheidenen Fluss aussergewöhnlichen Bestimmung einigermassen nach zu kommen. Statt auf möglichst direktem Weg dem Kaspischen Meer zuzustreben, flaniert er allerdings, seinem Naturell entsprechend, kreativ durch die Ebene. Weitläufig mäandriert er, in kunstvoll verschlungenen Armen dahin. Einfallsreich formt er organische Muster, unzählige Inseln, Tümpel und Sandbänke. ‚Land Art’ in der Steppe. Sumpfige Auen und krautiges Brackwasser gehören zum Gesamtkunstwerk ebenso wie blutrünstig umherschwirrende Steckmücken auf der Such nach Durchreisenden. Einem derart künstlerisch begabten Fluss mutet man eine, im Grunde genommen so einfallslose Aufgabe zu, wie das Auseinanderhalten von zwei Erdteilen.
Mehr oder weniger stellt er damit ja auch nur die simple Verlängerung einer weiteren Behelfslinie dar, nämlich die des Ural-Gebirges – Mittelgebirges!
Tatsächlich verdankt das flache Land um den Ural dem Wasserlauf eine, wenn auch eingeschränkte, Fruchtbarkeit.
Hin und wieder begegnen wir neugierigen Kamelen am Rand der Piste. Ihre lang gestreckten, flachen Schädel bewältigen die 180°-Drehung genau in der Geschwindigkeit der Vorbeifahrenden, ohne einen Moment mit dem Kauen der dornigen Gräser auszusetzen. Sie haben immer einen etwas zurückgebliebenen Ausdruck im Gesicht, der auf Abwesenheit shliessen lässt. Man könnte meinen, sie sinnieren gerade über die schwierige Phase der Selbstfindung in einem postkommunistischen Transformationsstaat.
In Wirklichkeit aber – kaum zu glauben – formulieren ihre kreisenden Kaubewegungen mit der gespaltenen Oberlippe eine Frage an uns:
„Where are you from?“
Aha, internationale Sprachkenntnisse, stellen wir erfreut fest. Das ovale Länderkennzeichen mit dem grossen D klebt auf der Hecktüre, sie können es nicht sehen. Unser Reisebuch ist interkulturell auf dem Laufenden. Sachverständig empfiehlt es:
‚Reisen beleben die Verständigung zwischen unterschiedlichen Gesellschaften. Gast und Gastgeber begegnen sich in fernen, manchmal abgelegenen Landstrichen. Es gilt als schicklich, zu Fragen über die Person und die Reise bereitwillig Auskunft zu geben.’
Wir erwidern also in Gedanken und freundlich natürlich:
„Germanija.“
Unser Herkunftsland nennen wir gerne. Der heimliche Stolz, politisch korrekt freilich, ist immer wieder grossartig. Man kann sich zu Germanija, oder wie dieses herrliche Land sonst auf der Welt genannt wird, jederzeit ohne Bedenken bekennen. Jeder wird gutgelaunt und mit Achtung reagieren.
Nur einmal wurden wir mit dem offenen Vorwurf konfrontiert, ‚unser Land’ habe sich unverständlicherweise irgend welchen Sanktionen gegen ‚sein Land’ angeschlossen. Das war aber woanders und passierte uns zum Glück seitdem nicht wieder.
Zurück an den Rand der Piste.
Mit der Eingangsfrage ‚Where are you from?’ sind seine Englischkenntnisse genauso erschöpft wie unsere Kenntnisse des Kasachischen mit dem Wort ‚Germanija’. Da Worte einer gemeinsamen Sprache fehlen, behelfen wir uns mit Gesten und Mimik. Blickkontakt der Augen, stummes einander Zunicken, Lächeln, das sind spontane Versuche, Gefühle der Fremdheit für einen Augenblick zu überbrücken. Gesten der Begegnung, die von der flüchtigen Durchreise geschrieben werden. Einladungen, die fast immer freundschaftlich erwidert werden.
Das Kamel kaut stur weiter, neugierig zwar, respektlos aber gegenüber unserer Offenheit im Dienst der Verständigung zwischen unterschiedlichen Gesellschaften. Wir sehen in den Rückspiegel. Unverwandt starrt uns das zottige Tier hinterher.