Rubber Vallam

Texte Indien 2 | Backwaters, Kerala, September 2011

Die Backwaters liegen im Hinterland Kerala’s, zwischen dem Gebirgszug der Westghats und den Klippen und Stränden der südindischen Malabarküste.
Kaayal, Gewässer, nennen sie die Keralesen in ihrer Sprache Malayalam.

Sie sind für uns nicht viel mehr als ein abstrakter geographischer Begriff und das verheissungsvolle Bild vom unverbrauchten Natur- und Lebensraum, der tropische Vollkommenheit und gemächliche Lebensweise verspricht.
Wir wollen hin.

Warum?
Gute Frage:
Genau genommen suchen wir unerschlossene Ecken im Hinterland, wo man noch eher für sich lebt. Nichts Spektakuläres. Nur eben Alltag, der nicht zu kommerzialisierter Folklore verdorben ist. Wir hoffen auf Nischen abseits der üblichen Routen, an denen der Strom des Tourismus vorbei fliesst.
Zugegeben, die Backwaters sind dafür eigentlich viel zu bekannt und genauso überlaufen. Als wir dann drin sind stellen wir aber erleichtert fest, Sightseeing hält sich an die leichter erreichbaren Orte an den Rändern. Das ist sozusagen draussen.
Dort draussen sind Kocchu Vallams, Kanus, und massenhaft Kettu Vallams, zum Hausboot umgebaute Reisbarken, die üblichen Fortbewegungsmittel mit denen sich Besucher durch die Landschaft befördern lassen – eine „inspirierende Erfahrung“.

…………… Ein Trip, der mitten ins Herz einer ……………
…………. von Unbeschwertheit und Harmonie …………..
………………. geprägten Landschaft führt, ………………..
….. wo Vögel singen, aber die Stimmung ruhig ist, …..
…….. wo Boote kreuzen, aber die Zeit still steht. ………
………………… Willkommen im Paradies ! …………………

„Mein Gott“, sagen die Einheimischen erstaunt – hauptsächlich Hindus, Moslems und Christen – als sie hören, dass wir gleich ein paar Wochen in ihren Backwaters verbringen wollen, in ihrer für sie gewohnten Natur, in ihrem gewöhnlichen Leben.
Wir haben unseren Outside (aufblasbaren Schlauchkanadier) dabei und wollen uns die Zeit nehmen, eigene Wege durch das Gewirr der Seen, Flüsse und Kanäle zu finden.

Und was heisst das jetzt konkret?
Zuerst mal:
Gewässerkarte besorgen.
„Gewässerkarte?“
„N – J – N – J – N“, gibt der Inder mit dem üblichen Kopfwackeln zu verstehen, dass für uns immer wie Unlust daherkommt – als wäre die Sache längst geklärt. So eine hoffnungslos unbestimmte Geste genau zwischen Nein und Ja.
„Gibt es nicht?“
„N – J – N – J – N“.
„Kann man irgendwo eine kaufen?“
„N – J – N – J – N“.
Aha, so ist das also.
Wir gehen auf die digitale Suche.
http://www >> indien >> kerala >> backwaters, linke Maustaste, Zoom und … können den Dschungel von oben betrachten. Die schmalen Seitenarme, viel versprechend und verlockend, sind alle unter dichtem Grün verborgen. Total überwuchert, weil hier alles in kürzester Zeit total überwuchert – das ist Leben.
Satellitenbild also auch nicht.
Keine Hilfe von oben.
Wir fahren ohne Karte ins Hinterland.

Und Stellplätze?
Na ja, das ist halt Indien:
Einsame, ungestörte Stellen, die mit dem Auto zu erreichen wären, darf man kaum erwarten. Neugierige schiessen bei Anwesenheit von Fremden aus dem Boden wie Pilze nach einem schwülen Regen.
Auf der Landspitze einer Verzweigung des Kallada-River werden wir schliesslich fündig. Hervorragender Platz mit neun von zehn möglichen Sternen.
Zur Standortbestimmung wenden wir uns an die Satelliten.
Die Koordinaten erscheinen gerade im GPS – N 08°59’950’’ E 76°37’010’’ – als Gopi auftaucht.
„Gopi … Dr. Gopi“, sagt er, mit Kunstpause zwecks beiläufigem Bildungsbekenntnis. Und nice to meet you, und der Urahn der Homöopathie sei ja ein Deutscher gewesen, und wir doch auch, und er sei zufällig auch Homöopath, und das sei nun wirklich bemerkenswert.
Er platziert die Worte betulich, während ein stark verdünntes Lächeln und ein gläsriger Blick gespannt die Wirkung verfolgen.
Was soll man gross dazu sagen?
Auch die Wahrheit gönnt ihm erst die kleine Freude. Sie mischt sich ein paar Tage später ein.
Erniedrigend. Seine Frau, nicht er, sei die echte Doktorin, und er habe sich den Titel in eMannzipatorischer Absicht nur angeeignet.
Aber im Moment geniesst er die Gebärde, und darauf kommt`s doch an.
Sein Mundu, ein Baumwoll-Wickeltuch, dass traditionell um die Hüfte geschlungen oder hosenartig um die Beine geknotet wird, cremefarben für besondere Anlässe, ist besetzt mit vornehm glänzender Bordüre. Das Oberteil beschränkt sich dagegen auf das rein synthetische Wohlbefinden eines hellgelben Nylonhemds.
„Nun ja“, er habe also gehört, wir würden die Gegend mit eigenem Boot auf eigene Faust erkunden.
„Eigenes Boot, das ist ja, wie soll ich sagen … ganz aussergewöhnlich.“
Und wenn wir da mal in die Verlegenheit gerieten, nicht mehr zurück zu finden, wäre es doch gut, den Namen dieser Stelle zu wissen:
„Karuthrakkada – nicht vergessen – Karuthrakkada!“
Wir blicken zurück, winken, und lassen uns von einer kaum spürbaren Strömung davon tragen in eine andere Welt.

Andere Welt?
Aber ja, ohne Übertreibung:
Es gibt Landschaften, die Wonne in unser Herz füllen. Die Backwaters in Kerala sind so eine Landschaft.
Wasser, Kokospalmen und Bananenstauden bestimmen das Bild.
Sattes Grün.
Friedlich.
Der Morgen über dem Kallada legt allmählich seinen Dunstschleier ab.
Violett, orangefarben, neongrün und neongelb in den Dschungel gewürfelte Häuser beginnen mit dem aufsteigenden Sonnenlicht um die Wette zu strahlen.
Da stehen Aluminium- und Plastikkübel frisch gewaschen bereit.
Wäsche hängt an ihren Leinen.
Bambusstangen und Palmwedel, lose verflochten, umgrenzen die Höfe. Wer sicher gehen will, verteidigt sein Anwesen gegen das drängende Grün mit einer soliden Mauer.
War allerdings eine Palme zuerst da, wird höflich um sie herum gemauert – ohne Not wird natürlicher Schatten ungern aufgegeben.
An den sumpfigen Ufern liegen dunkelbraun die Boote. Wir fragen. Die Planken sind aus dem Holz des Jackfruchtbaums geschnitten, mit Kokosschnur „vernäht“ und die Nahtkanten mit Hilfe von Fisch- oder Kaschuöl zusätzlich abgedichtet.

Und die Leute?
Also unter uns:
Schadi, der Fährmann mit dem Kanu (Katatthu Vallam = Fähre) hat seinen Dienst zwischen den beiden Ufern mit dem Morgengrauen aufgenommen. Bei jeder Überfahrt hat er eine Handvoll Leute an Bord – und Neuigkeiten. Willkommene Informationen, Nachrichten, Gerüchte. Schadi hört zu, transportiert und erzählt weiter. Längst Vermutetes, Beneidenswertes, Fragwürdiges, Klatsch und Tratsch sind das Material, dass die Spannung von Passage zu Passage aufrecht hält. Vielleicht bringt die nächste Fracht die ersehnte Aufklärung.
Sie nennen ihn deshalb nur Soap, Soap den Fährmann.
„Deutsche“, berichtet er, einige Augenblicke verharrt sein Stechpaddel in der Strömung während er mit dem Kinn auf uns deutet:
„Haben ihr eigenes Boot mitgebracht, ein ‚Rubber Vallam’ (= Gummikanu).“
Und gesteht gleich darauf seinen dürftigen Kenntnisstand:
„Nein, weiss leider auch nicht genau, sie haben mir nicht so viel erzählt.“
Tja.
Weil wir es selbst nicht so genau wissen.
Wir folgen mal der Strömung, mal der Neugier, ohne zu wissen welche Richtung das Wasser einschlagen wird und was hinter der nächsten Biegung auf uns wartet.

Und? Was hat gewartet?
Hinter der nächsten Biegung?

Ende des 1. Teils

Liebe Freunde, der zweite Teil dieses Berichts braucht noch etwas Zeit.
Dringende Informationen vorab gibt Soap bei Gelegenheit aber sicher gerne.