Fürsorglicher Arrest

Texte Pakistan | November 2010

Wenig später hat es der Polizeiwagen eilig, sich mit Blaulicht einen Weg durch das nächtliche Strassenlabyrinth zu bahnen. Sich und uns, man hat uns nämlich ohne weitere Erklärungen aufgefordert mit unseren beiden Fahrzeugen zu folgen. Eine Viertelstunde später: Die Flügel eines verbeulten Blechtores öffnen sich, wir finden uns in einem hoch ummauerten Hof wieder. Keilförmig fällt das Licht einer Glühbirne durch den Spalt einer halb geöffneten Tür. Das kleine, einzeln stehende Gebäude ist eine Dienststelle.
Der Empfang ist nicht gerade herzlich. Wir sitzen aufgereiht seitlich vom Schreibtisch auf Holzstühlen an der Längswand. Die Augen des Mannes hinter dem Schreitisch fixieren jeden von uns. Forschend. Einen nach dem anderen. Er scheint sich zu fragen, mit wem er es bei uns zu tun hat. Genau wie wir unsererseits versuchen, die Rolle dieses Mannes zu erkennen.
So um die dreissig wird er sein. Rote Baseballkappe, T-Shirt mit dem Schriftzug FITNESS, Jeans und weisse Sportschuhe geben keinen Aufschluss über eine besondere Funktion. Nur der am Oberschenkel befestigte Revolver weicht vom Bild des friedlichen Sportartikelverkäufers ab. Sein Englisch ist ausgezeichnet. Dennoch haben wir das Gespräch, das den unangenehmen Tonfall eines Verhörs hat – bohrende Fragen und Provokationen – hier in deutscher Sprache aufgeschrieben:
„Aus welchem Land kommen Sie?“
„Aus Deutschland“.
„Ah Deutschland … Hitler!“
„…“. Wir schweigen.
„Hitler hat Deutschland stark gemacht“.
Mit dieser merkwürdigen Meinung sind wir in den letzten Monate des öfteren konfrontiert worden. Wir reagieren wie gewohnt:
„Hitler war schlecht für die ganze Welt und für Deutschland“.
Unsere ablehnende Haltung verstärkt seine Neigung zur Provokation:
„Ihr Urteil zeugt von einem seltsam verzerrten Verständnis der Geschichte“.
„…“. Wir schweigen.
„Wussten sie, dass Hitler jüdische Vorfahren hatte?“ setzt er nach. Die Frage irritiert, passt sie doch nicht eben ins stolze Schema der gemeinsamen Arierherkunft.
„Wir haben davon gehört“.
Die Augen unter der Baseballkappe verfolgen aufmerksam unsere Reaktionen auf seine sprunghaften Fragen und Feststellungen:
„Deutsche Waffen sind sehr geschätzt“ fährt er fort.
Wir bleiben vorsichtig, wollen provozierende Auseinandersetzungen im Moment vermeiden. Er erkennt unsere Haltung und es klingt wie eine Zurückweisung, als hätten wir einen Vorwurf allein durch unser Schweigen zum Ausdruck gebracht:
„Wir sind keine Terroristen“.
Wir bejahen, weil wir das in einer Polizeistation für wahrscheinlich halten.
„Ich habe sie herbringen lassen, weil sie hier sicherer sind“.
„Aber wir standen doch in einem Hof der Polizei“.
„Die Levies! Dort wäre es nicht so sicher für sie. Das ist eine Untereinheit, die machen nur was wir sagen“.
„Danke, wir wissen ihre Fürsorge zu schätzen“ erwidern wir zynisch.
Er bückt sich zur Seite, um den kleinen Heizstrahler auf seine Füsse zu richten. Der Raum ist kalt wie eine Gefängniszelle. Das scheint ihm der richtige Ort für ein paar grundsätzliche Zurechtweisungen zu sein:
„Unsere Werte sind andere als ihre“.
„Welche Werte meinen sie?“
„Der Materialismus des Westens ist selbstzerstörerisch. Die Spiritualität des Islam ist der einzige Weg zur Lösung der Probleme“.
Wir schwanken, die Zurückhaltung aufzugeben. Die Erwiderung brennt auf der Zunge. Aber wir schweigen. Es wäre nicht klug, sich in der momentanen Lage in Streitereien verwickeln zu lassen. Er verfolgt seine Belehrungen ja ohnehin ohne wirklich eine Antwort zu erwarten:
„Alle üblichen Getränke in Pakistan sind alkoholfrei. Der Islam verbietet den Genuss von Alkohol“.
„Auch für Touristen?“ fallen wir ein, in der Hoffnung, ihn einmal zum Einlenken zu bewegen.
„Sie sollten sich das Trinken für andere Länder aufsparen“ antwortet er und erteilt dem bereitstehenden Uniformierten gleich darauf Anweisungen. Wir verstehen die Sprache nicht. Der Uniformierte verlässt salutierend den Raum. Dann will der Mann mit der roten Baseballkappe unsere Pässe haben. Er blättert, begutachtet die bunten Stempel und Visa, mal mit unbewegter Miene, mal nachdenklich, als würden ihm Pässe die geheimen Motive unseres Reisens offenbaren.
Während der Uniformierte von vorhin Tee serviert, beschwichtigen wir seine Frage nach dem Zweck der Reise mit der einfachen Antwort:
„Nur Touristen, keine anderen Interessen“.
Vielleicht weil er die Harmlosigkeit seiner Frage erkennt wechselt er wieder sprunghaft das Thema:
„Und das hier?“ während er mit dem Finger auf einen Namen tippt.
„Rudolf“ antworte ich, „das ist der zweite Vorname“.
„Rudolf? … Adolf wäre besser“ stichelt er.
„Wie sie meinen“ gebe ich zurück, um klar zu machen, dass sein Angriff fruchtlos ist und schlucke meinen Ärger runter.
„Mögen sie unseren Tee nicht?“
Ich beuge mich vor, gepackt von der Lust, mit gleicher Münze zurückzuzahlen:
„Wir trinken keinen Tee mit Leuten, deren Namen wir noch nicht einmal kennen“.
Das Verhör eskaliert für einen Moment zum Machtkampf. Provokation wird mit Provokation vergolten. Doch zu weit gegangen? … Kurze Pause … Dann siegt die Höflichkeit:
„Entschuldigung, sie haben Recht. Ich bin Nargis, Superintendent der Polizei“.
Nargis unerwartetes Einlenken löst die Spannung. Wir greifen zu den Tassen. Der Milchtee schmeckt süss, wir geben Butterkekse dazu und lassen die zynische Haltung langsam abklingen.
Mehr noch, Nargis drängt uns einen Stellplatz in seinem, Tag und Nacht bewachten, Hof auf. Einzige Bedingung sei, den Platz ohne seine Erlaubnis auf keinen Fall zu verlassen. Wir wollen dankend ablehnen, doch er besteht sehr nachdrücklich darauf. Kurz und gut, wir verstehen es als eine Art fürsorglichen Arrest.
Zwei Tage später ist unser Verhältnis sogar fast schon freundschaftlich.
Und noch was, Nargis hilft uns mit erstaunlicher Ausdauer bei der Beschaffung der Sondergenehmigung zur Durchfahrung eines schmalen Zipfels der Tribal Area – er nennt sie Trouble Area – und begleitet uns schliesslich auch noch persönlich zur Distriktgrenze, um das ungehinderte Verlassen seines Verantwortungsbereichs sicher zu stellen.
Ehe wir’s bemerken ist er verschwunden – ohne ein Wort. Wir können uns zum Abschied leider nicht einmal mehr ausdrücklich für den pausenlosen Schutz, die geduldige Hilfe und seinen verständnisvollen Umgang mit unseren kleinen Schwächen bedanken.
Auf diesem Weg holen wir das nach:
„Danke Nargis!“

Noch am selben Abend erreichen wir das Tal des Indus. Das erhoffte Bad im Fluss wird nicht gestattet. Wir werden durcheskortiert bis weit nach Mitternacht. Niemand möchte uns auf seinem Hof haben.