Do you like Pakistan ?

Texte Pakistan | November 2010

Und dabei ist der Gefängnishof in Nok Kundi nur der Anfang unserer Pakistandurchquerung. Glasscherben und Splitter glitzern in der Sonne auf der umgebenden Lehmmauer. Sie sind eingelassen, um mit der Androhung blutiger Konsequenzen vor dem unerlaubten Verlassen des Geländes abzuschrecken. Den mühsamen Weg über die Mauer kann man sich aber auch ersparen. In der grossen Öffnung, durch die wir gestern abend beim Dunkelwerden hereineskortiert wurden, fehlt das Tor. Während man die Allgemeinheit vor dem derzeit einzigen Einsitzenden schützen möchte – er soll unkontrolliert im Bazar herumgeschossen haben – sei es bei uns genau umgekehrt. Man will uns, so heisst es, vor den Gefahren der Öffentlichkeit bewahren. Mit denen sei auf gar keinen Fall zu spassen.
„Aufgehetzte Fundamentalisten … Terroristen … nicht gut … bei Nacht sowieso … und sogar am hellichten Tag!“ warnt Achmadar, der uns für das erste kurze Stück von der Grenze bis Nok Kundi mitgegeben wurde. Wir könnten jedoch ganz beruhigt sein, seine Begleitung werde uns vor Unheil bewahren. Polizei und Militär seien schliesslich verantwortlich für uns.
„Abseits der kontrollierten Route wimmelt es von Schmugglern … Drogen … nicht gut“. Er deutet auf die Bergkette links von uns:
„Afghanistan … von dort kommen sie … nicht gut“.
Sein Gesicht bedient sich der reichlich verfügbaren Falten zur Darstellung von grosser Sorge. Es sieht aus, als habe es schon oft grosse Sorge dargestellt.
Nachdem er auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat, lädt er sein Gewehr – dem Aussehen nach ein aus dem Ruhestand zurückbeorderter Schiessprügel, dessen Gebrauchsspuren von jahrzehntelanger Pflichterfüllung zeugen – und lässt uns vorsorglich wissen, etwa fünf bis zehn Dollar zur Bezahlung für seine spätere Rückfahrt mit dem Bezirksbus wären angemessen.
Wir nicken. Wer möchte in diesem Moment der gewonnenen Sicherheit so kleinlich sein, über die Fahrpreise öffentlicher Verkehrsmittel in Pakistan nachzudenken. Ausserdem gehen wir im Augenblick noch davon aus, dass wir diese Art von Schutz, deren Notwendigkeit und Wirksamkeit unser Bedürfnis nach selbstbestimmten Reisen gerne in Frage stellt, nicht allzu lange akzeptieren müssen. Letztendlich verlangen in den folgenden Tagen aber nur zwei der unzähligen Begleiter und Eskorten eine Entschädigung von uns.
Unsere Sicherheit wäre vollkommen, würde der Lauf von Achmadars Gewehr nicht ständig in unsere Richtung zeigen. Er scheint unsere Unruhe, vor allem wenn wir durch besonders tiefe Schlaglöcher fahren, zu spüren, klemmt die Waffe fester zwischen seine Knie und richtet den Lauf fortan verständnisvoll lächelnd nach oben. Wir können uns die Frage allerdings nicht verkneifen, ob er wirklich meine, mit seinem Gewehr eine eventuelle Gefahr abwenden zu können.
„So Allah will“ erwidert er und bemüht einmal mehr seine Falten.

Tatsächlich machen die Meldungen von offizieller Seite aufmerksam, raten ab, warnen:
„In Pakistan besteht eine erhöhte Gefährdung durch terroristische Anschläge, insbesondere Sprengstoffanschläge und Selbstmordattentate“.
Wenn es sich vermeiden liesse, solle man sich der Gefahr am Besten erst gar nicht aussetzen. Besonders wird auch vor Reisen durch Belutschistan gewarnt.
Ja klar, protestiert unsere innere Stimme, wir haben zu dieser Route aber keine Alternative.
Was tun?
Zumindest keinen Anlass zu Scherereien geben:
„Gotteslästerung, geringschätzige Bemerkungen über den Propheten Mohammed und Drogendelikte werden mit harten Gefängnisstrafen, unter Umständen mit der Todesstrafe geahndet“.
Solche unheilverkündenden Geschichten prägen unsere Vorstellungen bei der Einreise. Sie lassen lebhafte Bilder entstehen von fremdenfeindlichen, steinewerfenden Bergdörflern, wortkarg und distanziert, den unerwünschten Eindringlingen finster hinterherblickend.
In Wirklichkeit heisst man uns allenthalben Willkommen, zeigt sich freundlich und hilfsbereit den Reisenden gegenüber, trotz der schwierigen Situation in der sich das Land gerade jetzt, nach den katastrophalen Überschwemmungen befindet.
Etwas lästig wird dennoch das häufige Erfassen der Pass- und Fahrzeugdaten. Offenbar verlangt die Logik der Kontrolle und Sicherheit, dass sie bei jeder Gelegenheit in sehr grosse Bücher, die überall im Land ausliegen, eingetragen werden.
Gerade wie gestern nachmittag beim Grenzübergang, in einem der staubigen Lehmquader des Zolls. Ein Uniformierter hat uns hereingeführt und bittet uns Platz zu nehmen in den tiefen Plüschsesseln gegenüber von einem weitläufigen Schreibtisch. An der Wand hinter der Schreibstelle das bleiche Bild Ali Jinnah´s, Gründervater des Landes. Er war 1947 der beharrliche Gegenspieler von Jawaharlal Nehru und Mahatma Gandhi beim Zerteilen der grössten und reichsten der ehemaligen Besitzungen des British Empire in die heutigen Staaten Pakistan, Indien und Bangladesh. Das gesamte Büro ist im Grunde genommen eine abgewetzte Erinnerung an jene Tage und wir fragen uns, bei welcher Dienststelle wir hier eigentlich abgeliefert wurden. Wir hoffen auf denjenigen, der die Hoheit über den für unsere Einreise wichtigen Stempel hat.
Er kommt herein, nickt freundlich, nennt seinen Namen – an den ich mich jetzt beim Schreiben beim besten Willen nicht mehr erinnern kann – setzt sich so vornehm wie selbstbewusst an seinen hoheitlichen Schreibtisch und heisst uns Willkommen in seinem Land. Ausser der Hautfarbe ist alles an ihm blendend weiss, sein gepflegter Bart, die kurzgeschnittenen, schon etwas lichten Haare, das knielange, seitlich geschlitzte Gewand und die weite Hose.
Deshalb und wegen des vergessenen Namens wollen wir ihn hier einfach nur Doktor nennen. Vor dem Geschäftlichen steht die Vertrauensbildung. Folgerichtig erkundigt sich der Doktor erst einmal nach unserem werten Befinden. Wir plaudern ein wenig. Die übliche Unruhe an Grenzübergängen wird durch seine einnehmende Art aufgesogen. Er scheint uns ein feiner und einfühlsamer Mann zu sein, sagt „Sir“ und „Madam“, also bemühen wir uns, ihn nicht durch Ungeduld zu enttäuschen. Er fragt:
„Kennen Sie die Bedeutung unseres Landesnamens?“
„Pakistan?“
„Nein? … Es sind die Buchstaben der überwiegend islamischen Regionen … Verstehen Sie?“
„ … ? … „
„Aus fünf Gebieten im Nordwesten Britisch-Indiens wurde unser Muslimstaat Pakistan gegründet“.
„Ähm … ja … sorry … wir kennen die Details noch nicht alle“.
„Nun: P für Punjab, A für Afghania, K für Kashmir, das S von Sindh und das TAN aus Belutschistan – PAKSTAN … verstehen Sie?“
„Ohne I?“
„Ja“.
Dann ruft er einen nach dem anderen von uns vor sein grosses Buch:
„Sir, would you please spend a moment for me“ … „Madam, would you please spend a moment for me”.
Gewissenhaft und ohne jede Eile trägt er alle gefragten Daten in die dafür vorgesehenen Felder ein. Der rasche Blick über die Seite lässt erkennen, dass Einreisen von Travellern mit eigenem Fahrzeug nicht jeden Tag zu verzeichnen sind. Der Landweg Iran – Pakistan – Indien ist zur Zeit nicht so gefragt und wegen der Risiken und Unannehmlichkeiten vielleicht zu abschreckend. Nachdem alle unsere Namen im grossen Buch versenkt sind, entlässt uns der Doktor zufrieden lächelnd:
„Thank you for your cooperation“.
Und der Stempel? Der Herr des Stempels ist er allerdings nicht.
Wir müssen weiter zum nächsten Lehmquader.

„Benötigen Sie eine Eskorte?“ überrumpelt uns der Leiter des Polizeipostens mit seiner Frage.
„Äääh …?“
Wir sind nicht darauf vorbereitet, dazu nach unserer Meinung gefragt zu werden. Nachdem was wir gelesen und gehört haben, hat man keine Wahl. Die vermeintliche Entscheidungsfreiheit hat sich im nächsten Moment sowieso erledigt:
„Das ist Achmadar, er wird Sie bis Nok Kundi begleiten“.
„Aah …!“
Und da sind wir jetzt also, hinter der Lehmmauer im Gefängnishof von Nok Kundi – wie eingangs schon erwähnt. Und fragen uns nicht zum ersten Mal, ob die Pakistandurchquerung unter den derzeitigen Umständen überhaupt angebracht ist. Natürlich haben wir uns die Frage bei der Entscheidung nicht wirklich beantwortet, wir haben sie einfach nur hinter den unbedingten Wunsch zurückgestellt: Wir wollen nach Indien – auf dem Landweg – mit dem eigenen Fahrzeug. Jetzt oder Nie!
Die nächsten Fahrtage verlaufen immer nach dem gleichen Schema. Wir verlassen unsere Übernachtungsstelle – den Gefängnishof, meistens Polizeihof, einmal ein Hotel – jeden Morgen mit Begleiter oder Begleitfahrzeug. An Stadträndern oder Bezirksgrenzen wechselt die Zuständigkeit, wir werden weitergereicht wie der Stab beim Staffellauf. Wir sagen uns, dass das Ganze nur als Transit durch ein unsicheres Land zu sehen ist, aber die Unzufriedenheit wächst mit der Zeit, so als würden wir die ursprünglichen Bedenken und die Risiken nach und nach vergessen und das Gefühl der Bevormundung mehr und mehr ins Bewusstsein rücken.

Das holprige Asphaltband zieht durch wüstenhaftes Hochland, das Hochland von Belutschistan. Die Wüste Belutschistans ist grösstenteils menschenleer, die Lebensgrundlage schmal. Nur äusserst genügsame Gräser und Dornensträucher und eine handvoll besonders widerstandsfähiger Baumarten in den abgelegenen Oasen, mehr hält den widrigen Bedingungen nicht stand.
Vor der reduzierten Kulisse dieses ausgemergelten Hochlands wirken die landestypischen Lastwagen umso prächtiger. Der simple LKW, in seiner Erscheinung aus bloser Effizienz und aerodynamischer Vernunft wird umgestaltet zum Gesamtkunstwerk, das von einem liebevollen Verständnis für Überflüssiges zeugt. Richtiger gesagt für scheinbar Überflüssiges. Sehen wir doch das Leben selbst zur Schau gestellt: Vergnügen, Repräsentation, Lust und Luxus. In naiver Verspieltheit und Übersteigerung der Formen, durch ausladende Auf-, An- und Vorbauten, barocke Dekorationen aus Stahlrohr und Blech, gebogen, geschweisst, geschraubt, bemalt, beklebt und behängt.
„Yes – it´s our truck – thank you, thank you“.
Als er die Kamera auf den prächtig geschmückten Laster gerichtet sieht positioniert sich der Helfer, der für alle niedrigen Aufgaben rund um Fahrzeug und Fahrer zur Grundausstattung des Lastwagens gehört, rasch neben dem Gefährt. Stolz legt er seine Hand auf die Karosse. Doch schon hat auch der Fahrer unser Interesse bemerkt, erinnert sich seines Vorrechts, eilt herüber, schiebt seinen schmächtigen Kümmerer beiseite ehe der seinen allzu kurzen Auftritt auskosten kann und ruft:
„O.K. – please take photo now“.
Schwungvolle, konvexe und konkave Formen wollen auf allen Seiten das Format sprengen. Die Dachbekrönung, ein machtvoller, überhängend nach vorne gekrümmter Aufbau, oben spitz zulaufend, erinnert unweigerlich an ein gewaltiges Horn. Monströses Zeichen der Kampfbereitschaft so sehr wie üppige Prachtentfaltung beim Tanz des Pfaus um die Braut. Und der noch ausladendere Vorbau, der, wie der Kuhfänger einer Dampflokomotive, alles Störende von der Strecke zu schieben droht, verstärkt den Eindruck.
Illusion jedoch. Zu fragil die Konstruktion. Körperliche Kraft- und Gewaltanwendung sind nicht gefragt. Es genügt, wenn das Fahrzeug Aufmerksamkeit erregt. Gewollt ist das repräsentative Transportmittel für den aristokratisch fühlenden Kleinunternehmer. Ein lustiger Thron, wuchernd in allen Details, bemalt und beklebt mit Ornamentbändern, geschmückt mit Girlanden, Fransen und Lamettaquasten aus bunter Aluminiumfolie, silbrig spiegelnd im Sonnenlicht, behängt mit Metallplättchen, Glöckchen, glitzernden Plastikteilen, Windrädern und farbig blinkenden Lämpchen und Lichterketten.
Der LKW fährt mit einem Ruck an – tausende von Glöckchen und Metallringen beginnen zu klimpern – gemächlich setzt er seine Fahrt durch das Hochland in Richtung Quetta fort.
Wir machen uns in entgegengesetzter Richtung auf den Weg, wollen hinüber zum Suleiman-Gebirge, um jenseits des Bergzugs endlich hinunter ins Tal des Indus zu kommen. Dass das nicht so einfach sein würde und wir das Industal nicht so schnell wie erhofft zu Gesicht bekommen würden, wissen wir in diesem Moment noch nicht. Im Moment stellt sich eher die Frage nach dem heutigen Übernachtungsplatz. Bevor es dunkel wird, wollen wir mal wieder einen abgelegenen Stellplatz finden, auf dem wir ungestört bleiben.
Aber unser Versuch, kurz vor Sonnenuntergang unauffällig hinter der Böschung eines trockenen Flussbetts zu verschwinden, scheitert. Wir werden ertappt:
„Nein, nein – nicht zum Übernachten … no sleeping … only picknick“.
Die Ausrede nehmen die Uniformierten, die den LEVIES, einer Untereinheit der Polizei angehören, verständnisvoll hin. Daran, dass wir für die Nacht auf ihrem Hof beim Polizeiposten zu stehen haben, ist dennoch nicht zu rütteln.
Als die Patroullie uns einige Minuten später zum Platz bei der LEVIES-Station geleitet, tun wir uns nicht leicht mit einer ungezwungenen Antwort auf die erwartungsvolle Frage:
„Do you like Pakistan?“