Texte Georgien | Vardzia, Kleiner Kaukasus, September 2012
„Aber es ist doch auffällig“, ich nehme eins von den umwerfenden Alpengold, das sind solche Biskuits mit Genussversprechen, mit Orangengelee und Zartbitterschokolade, „ich glaube es steht so auch in dem Koran.“
„Was?“, höre ich meine Reisegefährtin fragen.
„Das mit dem Sohn des Weges zum Beispiel“, ich nehme noch eins von den Alpengold, „dem Reisenden zu helfen sei eine heilige Pflicht.“
„Es ist nicht gut, den ganzen Tag nur Kekse in sich rein zu stopfen.“
„Ich meine, deshalb vielleicht sind Moslems immer so gastfreundlich.“
„Hast du Hunger?“
„Ich meine, waren es die Türken und Iraner nicht genauso?“ und nehme noch eins von den Alpengold.
„Doch, waren sie, aber Georgien ist doch hauptsächlich christlich-orthodox, oder?“
„Christlich? … Ja, ziemlich … Trotzdem …“
„Wir haben kein Brot mehr für morgen.“
„Kein Brot mehr?“, ich starre unentschlossen auf die blöden Biskuits … Lauter Klischees … Umdenken.
„Wir könnten mal zum Dorf gehen“, sagt sie.
„Nicht nur Moslems“, sage ich.
Das Dorf liegt in der Nähe. Es ist kurz nach Mittag als wir auf die Häuser zugehen, die auf die Böschung des steinigen Tals gebaut sind. Im Ort schätzt man Zweckmässiges:
Well-Eternit und Fernwärme. Zudem verwenden sie gerne Stahlblech für die Gartenzäune, solche grünen Lochbleche, die zur Befestigung von schwierigem Gelände eingesetzt werden. Ich male mir aus wie sie zurückgelassen wurden, vor ein paar Jahren, als Soldaten und Panzer von den Hitzköpfen im Hauptquartier eilig in wichtigere Gebiete abgezogen wurden.
Gut war ja, dass die sinnlose Sowjetunion auseinandergefallen ist und Georgien wieder frei und selbständig, weil die Menschen so ja jetzt viel fröhlicher sein können.
Unsinnige Phrasen sind die Georgier gewöhnt und Frieden lebt nur in ihrer Hoffnung, ständige Kämpfe bis vor Kurzem: für die richtige Ideologie, den wahren Glauben, das geliebte Vaterland, um Freiheit oder die Macht – wer weiss das schon immer so genau – und Ilja der Patriarch der Orthodoxen freut sich, dass Gott doch nicht tot ist und entzündet Weihrauch für das Leiden und, na ja, für die Erlösung.
Aber darum geht’s nicht …
Eigentlich wollte ich nämlich gerade was ganz anderes erzählen.
Also, wir gehen auf das Dorf zu, wegen des Brots für morgen. Nirgends sehen wir Menschen, zumindest niemanden, dem wir zuwinken könnten. Eine Frau arbeitet vor einem Haus, sie beachtet uns nicht. Mit übernervösem Seitenblick muht eine Kuh uns an. Da geht mir auf, dass es unsinnig ist, in diesem Dorf nach Brot zu suchen. Ich lasse mir aber nichts anmerken.
Der Weg wird steiler. Auf halber Höhe stehen bei einem Haus Türe und Fenster offen. Wir gehen hin, Männer lungern davor, solche Wir-machen-gerade-eine-schlechte-Zeit-durch-Gesichter. Als wir näher kommen, hören sie auf zu reden.
„Gamardshoba. Ist das ein Laden hier?“, frage ich in die Gruppe. Sie schauen sich an. Einer macht eine Bemerkung. Alle lachen. Ich bemühe mich, mit zu lachen, aber es gelingt mir nicht so richtig.
„Ein Laden? Magazin?“, wiederhole ich unlustig. Ich glaube, dass ich die Tragweite meiner Frage nicht ganz durchschaue. Sie muss offenbar besprochen werden. Man muss Zeit haben, wie der Dorfrat, der Nebensächliches gut gelaunt behandelt. Während noch debattiert wird schüttelt einer den Kopf:
„Magazin nein.“
„Nein? … Kann man irgendwo …“, mit meinen Händen mache ich erst kreisende Irgendwo-Bewegungen, dann so eine laibförmige Brot-Geste „ … Brot kaufen?“. Es sieht dennoch nicht so aus als ob sie begreifen was ich möchte.
Meine klug vorbereitete Reisegefährtin deutet auf ‚Getreideprodukte’ in ihrem OhneWörterBuch – Zeigen statt Stammeln.
„Brot nein“, sagt der Wortführer nun.
„Kein Brot?“
Alle schweigen betroffen, doch an ihrem Verständnishorizont scheinen sie allmählich die Umrisse von leeren Mägen auszumachen. Der Wortführer nickt einem Anderen zu, der Andere bedeutet uns, ihm zu folgen.
„Ich heisse Zafer“, sagt er.
Wir gehen mit, durch den oberen Teil des Dorfes, das nichts weiter ist als einige verstreut liegende Häuser, steigen den groben Weg unter den grossen, alten Bäumen hinauf und finden uns unvermittelt auf dem Sofa der überdachten Veranda vor Zafers Haus. Er entschuldigt sich gleich, lässt uns auf der Veranda sitzen und verschwindet im Haus. Als er zurückkommt setzt er sich zu uns. Ab und zu sieht man emsige Schatten im Haus. Ein wenig später erscheint eine Frau, grüßt nickend, stellt eine silbern glänzende, bauchige Kanne auf den Tisch. Zafer zeigt sich als Hüter alter Regeln. Liest er Gäste von der Strasse auf, meldet er das und erteilt Anweisungen ohne sich selbst in die häuslichen Angelegenheiten einzumischen.
„Tee?“, fragt er und giesst ein.
„Leben viele Moslems in der Gegend?“, frage ich.
„Ja“, er zeigt auf den Bergrücken, „drüben auf der anderen Seite, das ist schon die Türkei.“
„Bist du Moslem?“
„Ja, aber ich mache nicht die vorgeschriebenen Gebete.“
Er entschuldigt sich wieder, geht ins Haus, kehrt zurück, setzt sich, giesst von dem schwarzen Tee nach. Worauf wir warten bleibt offen. Wir fragen nicht. Vielleicht schneiden sie Brot aus ihrem Vorrat für uns ab. Wenn ich’s mir richtig gemerkt habe heisst es ja:
Die Almosen sind bestimmt für den Reisenden,
es ist eine Rechtspflicht von Seiten Gottes
und Gott weiss Bescheid und ist weise.
„Kann sein, weiss nicht“, sagt Zafer als wir ihn darauf ansprechen, „weiss nicht so genau, was im Koran steht.“
Mein Blick fällt auf ein halbiertes Blechfass im Hof, einen, in eine Steinmauer eingelassenen, rostig-rußigen Backofen, ich kann aber keine Spur von Duftmolekülen ausmachen.
Zafer entschuldigt sich erneut, geht ins Haus, erscheint kurz darauf wieder und fordert uns jetzt auf ihm zu folgen:
„Kommt mit mir.“
Wir lassen den Tee stehen.
Er geht voraus, erleichtert wie einer der den unvorhergesehenen Besuch hinhalten musste, bis alles in Ordnung gebracht ist. Während wir durch den schwach beleuchteten Hausflur hinter ihm hertappen, beschäftigt mich, ob unsere Frage nach Brot nicht doch absolut missverständlich war. Mit gemischten Gefühlen betreten wir einen Raum, eine Art Wohnzimmer im Halbdunkel. Wie es da genau aussieht nehme ich nur ungefähr wahr. Ich erinnere mich an einen Teppich mit einem Endlosmuster grosser Rauten, ein Sofa oder zwei vielleicht, einen Arbeitstisch mit Computer, ein paar Stühle, einen weissen Küchenschrank, etwas Rosarotes, einen Wasserkocher wahrscheinlich, und eine Tapete wie die verblichene Erinnerung des ausgestorbenen Wortes ‚blümerant’.
Nach dem raschen, klärenden Blick zieht ein länglicher Tisch die Aufmerksamkeit auf sich, nein, vielmehr das was da so vorherbestimmt und unabwendbar aufgetischt ist.
Es gibt Kartoffelbrei mit braun zerlassener Butter, Reis in Tomatensuppe, Salat zubereitet mit Olivenöl und Zitronensaft, georgischen Mozarella in feine Streifen geschnitten, cremig glänzenden Joghurt und zwei Körbe Brot. All das, als sei Fastenende angesagt. Das vorbereitetet Gelage lässt keinen Zweifel, Zafer ist schon ein rigoroser Gastfreund, in bester orientalischer Tradition, mit einem Hang zum Übertriebenen, Verschwenderischen, Masslosen.
Wir setzen uns hin.
Man sagt nicht nein.
Um uns der vollendeten Gastlichkeit anzupassen loben wir, noch satt vom Frühstück, von Anfang an und ununterbrochen die ausserordentliche Vielfalt und Ästhetik der aufgetragenen Speisen.
Aufmerksam probieren wir von allem.
Zafer schenkt dunkelroten Kirschsaft aus einer Glaskanne in unsere Gläser.
Leise klicken die Eiswürfel.
Zum Zeichen der Grosszügigkeit werden die Brotkörbe sofort, sobald wir ein, zwei Stücke davon genommen haben, wieder aufgefüllt
Ob sie uns davon etwas mitgeben werden?
Die Katze, die das Brot nicht greifen konnte, sagt: „Immerhin ist Freitag“