Texte Türkei 2 | Oktober 2010
Der Pontus ist ein Gebirgszug im Norden der Türkei. Ein schmales Ufer trennt das Schwarze Meer von den steil aufsteigenden Bergen. Wir haben uns auf den Weg gemacht, die Schattenseite des Gebirges hinauf, in das anatolische Hochland, um von dort erneut ostwärts auf Indien zuzusteuern. Der Strasse, die einer antiken Handelsroute vom Schwarzen Meer nach Persien folgt, wollen wir von Trabzon über den Zigana-Pass, Torul, Gümüşhane, Bayburt ins karge Innere Anatoliens folgen.
Der Regen reisst nicht ab. Die Wischerblätter quietschen. Es riecht nach durchnässtem Laub und Moos. Schwere Wolken treiben pausenlos vom Meer herauf, um sich, ohne das Hochland zu erreichen, zwischen den Felsen oben an den dicht bewaldeten Hängen zu verfangen.
Die Terrassen der Teestuben entlang der Straße laden, anders als sonst, nicht zum Anhalten ein. Unter den Sonnenschirmen, heute eher Regenschirmen, harren Çay schlürfende Alte auf freundlichere Tage. Auf ihre Stöcke gestützt lassen sie die Perlen ihrer Gebetsketten durch die Finger kreisen, palavernd, stirnrunzelnd, vielleicht wieder einmal einig darin, die Welt möge sich nicht ganz so schnell verändern … oder die einzige Hoffnung für eine bessere Zukunft gar darin sehend, die Welt würde wieder, wie sie früher einmal war.
Die Klöster der Gegend sind berühmt und zerfallen. Schwer zugänglich, manche so gut unter Felsvorsprüngen verborgen, dass nicht einmal der Reisende sie zu finden vermag.
Unsere Strecke windet sich die Berge hinauf.
Einer dieser Regenbögen, die sich gerne auf sehr kitschigen Postkarten über geheimnisvoll beleuchtete Landschaften wölben, wölbt sich nicht weniger kitschig über unsere Passstrasse. Auf einmal findet ein Bündel Sonnenstrahlen eine Lücke in der rastlosen Wolkendecke. Es beleuchtet ein Stück der nassen Fahrbahn, die Spiegelungen schimmern in rohen Grau- und Gelbtönen. Das konzentrierte Licht lässt Plastikmüll am Strassenrand farbenfroh, wie elektrisiert, aufleuchten. Als die Strahlung unsere Windschutzscheibe streift, steigt für einige Augenblicke eine wohltuende Wärme um uns auf.
Einfache Freuden. Die Bedürfnisse darauf reduziert, sich in heiterer Gelassenheit davontragen zu lassen. Wir sehen, wie der glänzende Film aus Wasser auf dem Asphalt von den Autoreifen Entgegenkommender zerrissen wird und langsam wieder zusammenwächst. Verfliesst, als wäre da nie eine Spur gewesen.
Im gleichtönigen Rauschen verlieren sich die planenden Gedanken nach und nach und legen Wahrnehmungen unter der Oberfläche alltäglicher Überlegungen frei. Etwas Unwirkliches wird für einen Moment spürbar: Was für ein Glück es ist in Bewegung zu sein.
Wie heisst es nochmal in Ibn Arabi’s „Buch der Entschleierung der Auswirkung des Reisens“?
Wartet – nichts sagen! Gleich find ich’s wieder … ich hab mir’s aufgeschrieben:
„Der Ursprung des Daseins ist die Bewegung. Folglich kann es darin keine Bewegungslosigkeit geben, denn wäre das Dasein bewegungslos, so würde es zu seinem Ursprung zurückkehren, und der ist das Nichts. Deshalb nimmt das Reisen nie ein Ende, nicht in der höheren und auch nicht in der niederen Welt.“
Liebe Freunde, wir wollen einen Moment innehalten. An dieser Stelle dürfen wir uns ruhig einmal am intellektuellen Umherschweifen – allein der wunderbaren Formulierung wegen – begeistern. Wir verneigen uns vor den faszinierenden Möglichkeiten der Sprache.
Eben.
Bewegung, Reisen, sich von Normierungen freimachen. Ungehindert die eigenen Ideen denken, nach Belieben die Pole ausloten, den Kurs immer wieder neu abstecken und die Erkundung nicht aufgeben …
es zieht uns weiter
… ungewohnte Sichtweisen zulassen und Staunen darüber, welche Vorstellungen anderswo als gewiss empfunden werden.
Sobald wir in Bewegung sind, kommt Beweglichkeit auch auf in unseren Ideen, Erinnerungen, Erwartungen und Bewertungen.
Die wandernden Gedanken werden davongetragen mit der Fahrt durch den Regen. Sinnierend arbeiten wir uns den Zigana-Pass hinauf, dem herunterströmenden Wasser entgegen, das die aufgestauten Wolken auf die Bergstrasse schütten.
Ein verirrter Lichtstreifen.
Bevor der wohl organisierte Tourismus von heute das Licht des
„Incredıble !ndıa“ erblickte, improvisierte sich eine bunter Strom Unerschrockener jedes Jahr auf dem Landweg gen Osten durch. Den Kopf voller Götter und Gurus, auf der Suche nach neuen Horizonten oder geheimnisvollen Lehren, die, so die Hoffnung, irgendwo zwischen goldenen Tempeln und Räucherwerk auf ihre Enthüllung warten. Ganz ehrlich – alles denkbar – nichts auszuschliessen. Der India-Overland-Trail entwickelte sich ab der zweiten Hälfte der 60er-Jahre zum Hippie-Trail. Selbstverwirklichung und höhere Bewusstseinsebenen beflügelten die kollektive Faszination.
Den Weg zum besseren Karma geht man mit Aufgeschlossenheit, Verständnis und Mitfühlen, in jedem Fall mit Jesuslatschen und Batiktüchern.
Die Wolken lockern sich allmählich.
Am Strassenrand rät eine Werbetafel für japanische Laserdrucker:
EXCEED YOUR VISION
Dankbar nehmen wir die spirituell anmutende Botschaft aus dem Osten auf.
Der Vision mehr Raum geben, die Bilder farbiger werden lassen.
Und mit einem Mal erscheint es so klar wie auf Hochglanz-Fotopapier, gedruckt in der munteren Unbeschwertheit und den bunten Tönen der sechziger Jahre:
ALL YOU NEED IS LOVE
Als wir die Passhöhe erreichen lässt der Regen nach. In der Ferne wird die Hochebene von der Sonne bestrahlt. Wir biegen ab nach Osten und folgen, mental jetzt gut gerüstet, dem Erleuchtungsweg auf Indien zu.