Texte Russland 2 | Transsibirische Route, September 2012
Seit Beginn des Jahres war es zunehmend heisser geworden in Südindien.
Ende Februar hatten wir uns aufgemacht nach Nepal, in die kühleren Vorgebirge des Kathmandu-Tals; zwei Monate später überquerten wir den gewaltigen Gebirgszug des Himalaya; ab Mai durchfuhren wir die weite tibetische Hochebene, Zentralchina und die östliche Wüste Gobi, danach kreuz und quer durch die mongolische Steppe und waren dann ab Mitte Juli in Sibirien. Und wir waren beeindruckt von den Landschaften, durch die wir in so kurzer Zeit gekommen waren und von den unterschiedlichen Menschen, denen wir zugewunken und die wir getroffen hatten. Alles forderte Aufmerksamkeit, und die Eindrücke und Fragen wurden mehr und mehr je länger wir unterwegs waren, und vielleicht waren wir auch etwas reisemüde geworden.
Eine Fähre beförderte uns aus der Wald- und Steppenlandschaft am Westufer des Baikalsees hinüber auf die Insel Olchon. Kaltes tiefes Wasser. Der Schamanenfelsen, einen unerwarteten Augenblick von durchbrechenden Sonnenstrahlen beleuchtet. Und die Leute dem Mongolischen näher als dem Russischen.
Wir hatten vor, dort etwa einen Monat zu bleiben und Sibirien rechtzeitig verlassen, bevor der erste Kälteeinbruch im Herbst zu erwarten war.
Von unserer Baikalinsel aus konnten wir die düsteren, undurchdringlichen Berge am jenseitigen Ufer sehen. Finstere Wolken die sich mächtig herüber wälzten. Blitze und klatschender Regen nachmittags. Eine einzelne Möve harrte auf Treibholz geklammert. Abends Glanzschleier über dem Wasser.
Wir hatten ein paar gute Pfannkuchen gebacken, und wir assen Marmelade und ein bisschen Zimt und Zucker dazu.
Dann kamen kältere Nächte, frostige Stunden vor Sonnenaufgang. Das Ende unserer Erholungspause kam, der lange Weg durch Sibirien lag vor uns, die endlose Bahnstrecke war unsere Leitlinie. Die Strasse folgt ihr, auf ihr hielten wir westwärts und lernten weiter russische Buchstaben.
Von Irkutsk nahmen wir ein unternehmungslustiges, israelisches Pärchen mit, das mit Rucksack per Anhalter durch Asien unterwegs war. Sie erzählten von China und von Indien, und dem Segen des Yoga, und von ihrem hundertjährigen Guru, der alle an Beweglichkeit und Ausdauer übertraf. Ein paar Tage später setzten wir sie in Krasnojarsk ab, wo sie eine kostenlose Couchsurfer-Bleibe gefunden hatten. Wir bewunderten ihre Bereitschaft, sich immer wieder von fremder Hilfe abhängig zu machen, und wie viele Kontakte sich daraus ergaben.
Weiter. Wir fuhren immer weiter. Tage vergingen. Die Augen wanderten, sahen Birken, blickten in die Ferne, sahen Birken, erwarteten nichts anderes mehr als sibirische Birken.
Zwei Wochen später hatten wir es bis zu den fichtenbestandenen Bergrücken des Ural geschafft. Wolken hingen darüber und verhüllten die Baumspitzen, und hin und wieder gaben Lücken den Blick frei auf andere Bergrücken, ferne, verschwommene Formen im grauen Nebel. Durch die Taleinschnitte des Gebirges verliessen wir Sibirien und kamen in den europäischen Teil Russlands.
Unsere neue Leitlinie wurde die Wolga, jetzt ging es südwärts auf das Kaspische Meer zu. Manchmal nahm die riesige Wolga, die im gleissenden Sonnenlicht wunderbar träge dalag, die ganze Landschaft ein, so unglaublich breit war sie.
Später kreuzten wir bei Astrachan unsere alte Route von vor zwei Jahren.
Dann lagen die terrorisierten, südrussischen Republiken im Kaukasusvorland vor uns. Überall gab es dort Kontrollposten, Polizei und Militär, viel Gewaltbereitschaft und die Parolen des Fundamentalismus. Sicher hatte jeder wieder Gründe für alles, aber wir wünschten, sie würden ihren rückständigen Egoismus erkennen, anstatt sich gegenseitig zu erschiessen und allen Leuten das Leben schwer zu machen, und doch nur hinter Macht und Geld her zu sein. Wir fragten uns, ob sie uns durch Dagestan und Tschetschenien lassen würden und ob wir schliesslich, am Ende der langen Fahrerei durch Russland, ins ehemals verbrüderte, jetzt gegnerische Georgien würden ausreisen dürfen.
Wir parkten unser Fahrzeug auf dem Sand am Kaspischen Meer, stapften einen halben Kilometer raus, standen aber immer noch im flachen Wasser.
Abends legte sich ein betrunkener Raufbold mit uns an. Wir verliessen unseren Platz am Strand und übernachteten hinter einem Erdwall und Büschen, wo sie uns nicht sehen konnten.
Am Ende waren wir froh, schnell aus den Unruhegebieten weg und in optimistischere Gegenden zu kommen.