Texte Russland 1 | Ende September bis Anfang Oktober 2010
„Das kann doch nicht ewig so weitergehen. Woche um Woche durch eine nicht enden wollende Wüste ziehen. Ohne Schatten, geblendet vom gleissenden Licht der Sonne. Gequält vom wirbelnden Staub, der das Atmen immer schwerer werden lässt. Kein Geräusch ausser dem unaufhörlich pfeifenden Wind und dem Knirschen der Hufe. Die Tiere halten bislang durch, aber wie lange noch? Sie befinden sich in einem erbärmlichen Zustand. Denn klar ist, die erste Sorge stellt die dringend benötigte Weide dar. Und dann die Schläuche. Sie sind verschlissen, das Wasser wird knapp. Wann werden wir aus diesem verdammten Sand endlich herauskommen?“
So erlebte man Reisen seinerzeit, als der Globus noch nicht so rund und die Strapazen noch mit archaischem Heldenmut zu nehmen waren. Anstelle von Tieren, Weide, Schläuchen und Wasser gilt heute unsere grosse Sorge den Fahrzeugen, einer Werkstatt, den Reifen und einem Geldautomaten.
Reparaturen sind dringend notwendig. Die Schadensliste hat sich gerade erst um ein paar unerfreuliche Posten verlängert.
Beim Syncro:
Gebrochene Feder der rechten Hinterradaufhängung
Zerbrochene Seitenscheibe links hinten
Geräusche am Fahrwerk (Wir hören KLACK-KLACK-KLACK-…, der türkische Mechaniker ein paar Tage später hört es als GÜL-GÜL-GÜL-…)
Beim Sprinter:
Ein geplatzter Reifen, im zweiten Reifen eine Schraube und ein Nagel, der dritte völlig ohne Profil, dafür mit Beule
Defektes Schloss an der Schiebetür
Eingeschlagenes Dreiecksfenster der Beifahrertür (Nein, kein Einbruch sondern ein Fahrzeug mit intelligenter Automatik. Eine anarchisch veranlagte Zentralverriegelung hat einen für sie günstigen Moment abgewartet und uns mitten im regnerischen Abseits heimtückisch ausgesperrt. Uns blieb nichts anderes übrig, als die Scheibe einzuschlagen.)
Mit unseren lädierten Fahrzeugen verlassen wir Ende September Kasachstan, werden an der russischen Grenzstation zügig abgefertigt, überqueren ein paar der zahlreichen Seitenarme im Mündungsdelta der Wolga und begeben uns, mässig gute Asphaltstrasse unter den Rädern, direkt nach Astrachan, Hauptstadt der gleichnamigen Oblast.
Das Wichtigste wird in einer Werkstatt flink in Ordnung gebracht.
Was jetzt noch?
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“
Ah ja, richtig, Russland, Lenin! Natürlich, wird erledigt.
Also dann:
„Где Регистрировать Визу?“ (Wo kann ich mein Visum registrieren lassen?)
„УФМС.“
„…?…“
„Ja, früher OVIR. In der Kirovstrasse 5“
Wir fahren hin.
Unsere Migrationskarten werden gleich für die gesamten zehn Tage unseres Visums gestempelt – ohne Umstände.
„Was ist denn jetzt los?“ fragen wir überrascht, klatschen uns, als wir wieder draussen sind, jeder mit jedem die Hände ab und streifen in hervorragender Stimmung durch die Stadt.
Russland ist uns sehr sympathisch.
Wir wissen allerdings immer noch nicht, ob wir in die südrussische Region um Sotschi überhaupt einreisen dürfen. Im Zusammenhang mit der Beschaffung der Visa wurden vage Vermutungen geäussert. Ob wegen der Vorbereitungen zur Olympiade 2014 eventuell oder vielleicht doch eher wegen der Nähe zu Abchasien, der umstrittenen Region an der georgischen Grenze, ist nicht klar geworden. In Wirklichkeit wieder einmal alles nur Gerüchte, unnütze Spekulationen.
Wir fahren ungehindert nach Sotschi – oder Moment mal … fast ungehindert … bis auf eine Sache nämlich.
Eigentlich wollten wir das lästige kleine Erlebnis unerwähnt lassen. Repräsentativ für heutige russische Verhältnisse muss es eh nicht sein. Wir täten den russischen Ordnungshütern der Strasse möglicherweise unrecht, wenn wir den Eindruck vermittelten, als seien alle so. Das ist nicht gewollt! Ganz im Gegenteil, die Episode zeigt, russische Verkehrspolizisten haben Humor und können im Zweifelsfall auch mal einlenken. So gesehen ist die Formulierung oben zu korrigieren. Es muss also heissen: ‚das lustige kleine Erlebnis nicht unerwähnt lassen’.
Gut, versuchen wir’s:
Es klingt wie ein Schnarren oder Brummen, zwei mal kurz hintereinander. Polizeisignal?! Sind wir gemeint? Die grosszügig ausgebaute Strecke ist im Augenblick fast leer. Um uns herum kein anderes Fahrzeug ausser dem weissen Einsatzwagen mit dem blauen Schriftzug МИЛИЦИЯ (Milizija). Er hat sich, wie aus dem Nichts, unbemerkt an uns heran geschoben. Wir müssen gemeint sein. Lästig, aber in den letzten Monaten zur regelmässigen Übung geworden. Nicole sitzt gerade am Steuer. Sie fährt rechts ran, bleibt auf dem Seitenstreifen an der Leitplanke stehen, kurbelt die Scheibe runter.
Anders als sonst, erspart sich der angerückte Vertreter öffentlicher Sicherheit und Ordnung diesmal die freundlichen Eingangsworte. Verständigung ist offensichtlich nicht seine Anliegen. Ablehnend und unnahbar scheint er mit rätselhaften Fragen und Befehlen ein einschüchterndes Netz um seine Beute spinnen zu wollen. Bemüht aggressiv verlangt er die Pässe. Nach einer kurzen Besichtigung trägt er sie zu seinem wartenden Kollegen auf die gegenüberliegende Seite der Strasse hinüber. Seine Rolle beschränkt sich offenbar auf das Abnehmen der Ausweise.
In einvernehmlich organisierter Arbeitsteilung ist der andere im Fahrzeug hocken geblieben, um sich, so wirkt es, sein Opfer in der Höhle servieren zu lassen. Unwirsch fordert er uns auf, Fahrzeugschein und Führerschein durch das offene Fenster der Fahrertür herein zu geben. Wir geben ungern alle Papiere aus der Hand. Den Eindruck einer seriösen Kontrolle macht das hier nicht.
Dann will er, dass ich einsteige und auf dem Beifahrersitz Platz nehme. Nicole bleibt drüben vor dem Seitenfenster. Sein Herumblättern in den Pässen scheint unerfreulich zu sein. Er findet nichts. Wir haben nichts darin vergessen. In gewissen Fällen könnte man ja beispielsweise ein paar Rubelscheine darin vergessen haben. Aber nichts, rein gar nichts, was das Vertrauen in die pflichtgemässen Diensthandlungen des Milizionärs in Zweifel stellen könnte.
Unsere Frage nach dem Problem ist erfolglos, er lässt uns noch ein wenig zappeln. Schliesslich krakelt er eine fragwürdige Situation mit einer durchgezogenen Linie auf den Rand seines Protokollblocks. Aha, das ist es also – Pokern. Wir verstehen, hier wird auf ein schlechtes Gewissen gesetzt. Das kann ja manchmal funktionieren. Mit uns heute aber nicht.
Wir versuchen herauszufinden, wie gut seine Karten wirklich sind:
„Name? Number?“ und deuten auf den Brustbereich seiner Uniform. Dorthin wo üblicherweise Name und Nummer der Polizisten aufgestickt sind. Er ignoriert die Frage, aber spürbar verlässt ihn seine lässige Haltung. Gerade noch entspannt richtet er sich im nächsten Moment beunruhigt auf und versucht sein angedrohtes Protokoll wieder aufzunehmen.
Ein schwacher Zug. Wir setzen nach, reden lautstark von beiden Seiten auf ihn ein. Und weil er sich weiterhin weigert, notieren wir das Kennzeichen des Einsatzwagens auf einen zufällig bereitgehaltenen Zettel. Da kommt Nervosität – nein Alarm – bei ihm auf. Die Aktion droht für ihn ausser Kontrolle zu geraten, ist schon zu weit ins Unberechenbare eskaliert.
Wir lassen nicht locker, protestieren wütend, greifen auch noch zum Handy, um demonstrativ auf den Tasten herumzudrücken. Die hohle Drohung lässt ihn endgültig kapitulieren. Eilig gibt er uns sämtliche Papiere zurück. Verdutzt bleibt er sitzen.
Wir sind erleichtert und wollen uns rasch davon machen, als sein Mitstreiter, der für den Eröffnungsteil der ‚Massnahme’ zuständig war, zu uns herüber kommt, um sich der vollständigen Schlichtung der Angelegenheit zu versichern. So, als wollte er sagen ‚Nichts für ungut, versuchen wird man’s wohl mal dürfen’.
Wir zeigen uns versöhnlich, reichen uns die Hände und verbeugen uns tief voreinander – sehr tief.
Vom Lautsprecher des Einsatzwagens herüber tönt eine Stimme, der es lieber wäre, wir würden endlich verschwinden. Verblüfft hören wir die deutschen Worte:
„AUF WIEDERSEHEN“.
Wir fahren weiter nach Sotschi ans Schwarze Meer, kaufen uns Fahrkarten für die wöchentliche Fähre in die Türkei und legen ab.