Unvorentschieden

Texte Iran 2 | November 2010

Wir waren Mitte April aufgebrochen und ahnten nicht, dass schon Monate vorher die Passage über das Karakorum-Gebirge unter Gesteins- und Wassermassen verschüttet worden war. Erst unterwegs hatten wir erfahren vom Erdbeben und vom Bergrutsch in Gilgit-Baltistan im Norden Pakistans.
War es blauäugig, zu hoffen, die Stecke wäre in diesem Jahr wieder befahrbar?
So oft Zugang ins Internet zu bekommen war, versuchten wir aus vagen Meldungen verlässliche Informationen abzuleiten. Vergeblich. Bis August zumindest war, bei aller hoffnungsvollen Deutung, keine Entwarnung heraus zu lesen. Im Gegenteil, der Erdrutsch hatte eine natürliche Talsperre gebildet, der Hunza-Fluss das Tal und mit ihm den Karakorum-Highway tief unter Wasser gesetzt.
Von einer Sprengung des Dammes hatte man vorsichtshalber Abstand genommen. Unberechenbar!, hiess es, die Gefahr einer gewaltigen Flutwelle sei nicht auszuschliessen. Zumal die, den ungewöhnlich starken Regenfällen diesen Jahres folgenden Überschwemmungen schon jetzt verheerende Auswirkungen für die Bewohner des weiter abwärts gelegenen Industals hatten.
Schliesslich mussten wir uns eingestehen: Die geplante Route über Kirgistan, China und den Norden Pakistans geht momentan nicht. Das Ziel, Indien mit dem Auto auf dem Landweg zu erreichen, wollten wir trotzdem nicht aufgeben.
Unwillig begannen wir die Route durch das pakistanische Hochland nahe der afghanischen Grenze in Betracht zu ziehen, genauer, wir schlossen diese Strecke, die wir bislang unbedingt hatten vermeiden wollen, und vor der das Auswärtige Amt warnte, nicht mehr so energisch aus. Fahren durch eine Region, in der einem, neben einigen anderen archaischen Tatsachen menschlichen Seins, vor Augen geführt wird, wie man sich aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit oder – Gott bewahre – religiöser Überzeugungen oder anderer eingebildeter Erkenntnisse in die Luft sprengt, steinigt und enthauptet, und wie man vorbeikommende Ausländer entführt und als Geiseln nimmt.
In unserer Fantasie und in unseren Gesprächen mischten sich Bilder von zerschlissen vermummten Gestalten, Schnellfeuergewehren, blutigen Autositzen mit der – je unbehaglicher das Hinkommen über die Monate sich gestaltete – verlockender werdenden Aussicht auf Indien.
„Ich weiss“, sagte ich, „ich weiss, aber wir müssen ja jetzt noch gar nichts entscheiden … nein … nein, natürlich auch nicht vorentscheiden“, aber keiner hörte hin.
Keine Entscheidung.
Keine Vorentscheidung.
Unvorentschieden.
Über Kasachstan, Südrussland und das Schwarze Meer kehrten wir in die Türkei zurück, beschafften neue Visa, und im Spätherbst machten wir uns wieder auf den Weg nach Indien.
Die Strecke war gesäumt von sonnenbeschienenen Moscheen. Die Kuppeln glitzerten türkisfarben in der Hitze. Wir fuhren durch die weiten Sand- und Geröllebenen der Wüste Lut, durch spärlich besiedelte, südliche Landstriche, aus denen nur ganz selten und entfernt das Grün von Zitrusbäumen oder Dattelpalmen aufschien. In einer Felshöhle am Eingang einer Schlucht, der Feuertempel von Chakchak, Quelle und heiliger Baum, ein Schrein zoroastrischer Pilgerfrömmigkeit.
In Bam Spuren der Zerstörung vergangener Erdbeben. Die Gegend wurde noch mal trockener. Beim stunden- und tagelangen Dahinfahren sanken wir mehr und mehr in eine leere, gedankenlose Fortbewegungsroutine.
Geschehen lassen.
Wir hatten keine Entscheidung getroffen, zumindest gaben wir uns weiterhin unvorentschieden. Morgen oder übermorgen, vor der pakistanischen Grenze konnte man ja sehen wie es weiterging. Klar war, jeder von uns vieren musste seine eigene Entscheidung treffen, und zumindest paarweise je Fahrzeug ein gemeinsamer Entschluss gefasst werden. Überreden war in dieser Situation unangebracht.
Es war nicht weit von Bam, bei einer, meiner Erinnerung nach, eher unauffälligen Ansammlung von Gebäuden, wie an einer unsichtbaren Grenze in einer ansonsten menschenleeren Gegend, als wir während einer kurzen Fahrtunterbrechung von einem Mann angesprochen wurden. Eine übliche Sicherheitsmassnahme, sagte er, Polizei werde uns begleiten, und bitte, die Pässe seien im jeweiligen Begleitfahrzeug abzugeben. Nein, der Iran sei kein unsicheres Land, aber man müsse eben aufpassen, und nein, man dürfe von hier an nicht mehr frei stehen oder gar übernachten, und danke für die Kooperationsbereitschaft.
Am nächsten Tag wurden wir an der Grenze abgegeben, auf pakistanischer Seite entgegen genommen, wie eilige Fracht weiter gereicht an die Begleitung des dortigen Grenzbezirks, darauf übergeben an die Eskorte des nächsten Bezirks, und weiter, weiter, wurden sozusagen lückenlos durchgereicht vom Iran durch Pakistan bis an die indische Grenze.
Wir liessen es geschehen, bezwungen von dem Wunsch, Indien endlich zu erreichen, beeindruckt von der eindringlichen Warnung des Auswärtigen Amts, dass sorgfältig die Anschläge, Entführungen, Attentate der vergangenen Jahre auflistet zur Mahnung und zur Abschreckung vor Unvernunft und Leichtsinn, liessen es geschehen wie etwas, für dessen ganze ungeheure Tragweite man die Verantwortung gerne teilt.