Texte Mexiko | Rio Usumacinta, Chiapas, Februar 2022
Für unsere letzte Etappe in Mexiko, die Vierte, hatten wir uns vorgenommen, uns voll und ganz auf Chiapas zu konzentrieren. Chiapas ist der südlichste Bundesstaat Mexikos. Etwa ein Fünftel seiner knapp fünf Millionen Einwohner gehört unterschiedlichen indigenen, meist Mayavolksgruppen an. Sie sind die Alteingesessenen, heutzutage die Minderheit, während sich aus der Verschmelzung indigener und europäischstämmiger Bevölkerung, die sich als Mestizos bezeichnen, die heutige Mehrheit entwickelt hat.
Die topografische Karte des Bundesstaats zeigt viel Grün, das sind tiefer liegende Regionen, wie der Regenwald im Osten und der pazifische Küstenstreifen im Südwesten. Sie zeigt in mittlerem Braun das zentrale Hochland und das Küstengebirge, die ‚Sierra Madre de Chiapas‘, und hier und da verstreut eher gelbliche Töne für niedriges Bergland.
Wir hatten das Winterhalbjahr vor uns. Die regenärmeren Monate von Dezember bis April hatten wir als beste Zeit ausgemacht. Allerdings konnten wir zuschauen, wie türkisklare Wasserfallkaskaden sich auch ausserhalb der üblichen Regenzeit von einem Tag auf den anderen in braune Fluten verwandelten.
Unsere Route führte, vereinfacht gesagt, im Uhrzeigersinn in einer fünfmonatigen Runde durch eine unwegsame, von Wasser und Wald geprägte Landschaft. Dieser abgelegene Winkel Mexikos ist seit Mitte 2000 durchgängig von einer Asphaltstrasse, der ‚Carretera Fronteriza del Sureste‘, erschlossen. Von ihr aus führt auf etwa halber Strecke eine Stichstrasse an den Rio Usumacinta, der hier die mexikanisch-guatemaltekische Grenze bildet. Am hohen Ufer oberhalb der Bootsanleger endet die Strasse. Wir blicken den Flusslauf hinunter. Auf beiden Seiten dichter Regenwald, von landwirtschaftlich genutzten Flächen durchsetzt. Hinterlassenschaften indigener Geschichte liegen in den undurchdringlich verwachsenen Wäldern verstreut. Unser Ziel sind die flussabwärts am Usumacinta gelegenen Ruinen der ehemaligen Mayastadt ‚Yaxchilán‘.
Es ist heller Vormittag. Die Lanchas auf dem Fluss sind schmale, malerisch wirkende Holzboote mit einem gewölbten Palmwedeldach in der Mitte und einfachen Holzbänken rechts und links entlang der Bordwände. Wenn sie nicht, wie in den letzten zwei Jahren der Pandemie häufig, am Ufer dümpeln, dienen sie als Flusstaxis. Auf einem der Lanchas werden wir erwartet. Die zuständige Stelle hat aus einem kleinen Kreis von Bewerbern jemanden zum Bootsführer für unsere Fahrt benannt. Er steht im Heck. Seine linke Hand betätigt den Griff des Aussenborders. Mit niedriger Drehzahl hält er das Boot am sandigen Ufer. Wir steigen ein. Prüfend beobachtet er uns, die wir auf unserem Weg durch Chiapas in seinem Lancha gelandet sind. Noch während wir gegenseitig unsere Namen nennen und wir uns setzen, wendet Bo‘ola, so heisst er, das längliche Gefährt und lässt es von der Strömung mitnehmen.
Er steuert auf die Flussmitte zu. Drüben ist Guatemala. Von Menschen oder Gebäuden ist nichts zu sehen. Gefahren wird, wo die Strömung oder Treibholz und anderes es nahelegen. Wir werden etwa eine Stunde brauchen bis Yaxchilán.
Archäologen haben Teile dieser historischen Mayastadt freigelegt und nannten sie Yaxchilán, weil der ursprüngliche Name nicht herauszufinden war, erklärt Bo‘ola. Eine grosse Schleife des Usumacinta umschliesst die Ruinenstätte fast vollständig. Dichter Urwald umgibt sie. Forscher gehen davon aus, dass die Stadt schon vor über tausend Jahren aufgegeben wurde. Ungehindert konnte Vegetation sich in Spalten und Räumen verwurzeln. Die Stadt verschwand nach und nach im Dickicht.
„Wo sind sie hin?“
„Hmh?“
„Die Leute aus der früheren Stadt.“
„Ich weiss nicht. Überall hin.“
„Gibt es noch Mayas?“
„Sicher.“
„Und deine Familie?“
„Ja, wir sind Ch‘ol.“
„Ch‘ol sind Mayas?“
„Ja.“
In einer Biegung des Flusses lässt Bo‘ola das Boot mit der Strömung am guatemaltekischen Ufer entlang treiben. Warum ist nicht erkennbar. Das Wasser scheint überall gleichmässig zu fliessen. Milchig braun. Aber Bo‘ola weiss von den zuweilen knapp unter dem Wasserspiegel verborgenen Hindernissen.
Treibholz ist nicht das Einzige, was sich mit uns auf dem Wasser fortbewegt. Neben uns treiben Flaschen aller Art dem Meer entgegen. Sie haben die verschiedensten Formen und Farben. Kleine handliche Flaschen, auf deren Etikett üppig schäumende Haare abgebildet sind, und andere, silbrig grau mit der Abbildung von honiggelbem Motorenöl, und wie immer, die PET-Einwegflaschen mit der legendären Kontur.
„Plastik“, sagt Bo‘ola, „alles aus Guatemala, nicht aus Mexiko. Bei uns wird es gesammelt. Gibt drei Pesos pro Kilo.“
Auf etwa zweihundert Kilometer ist der Usumacinta Grenzfluss zwischen Mexiko und Guatemala. Die Region ist wenig erschlossen und dünn besiedelt. Einsame Farmen, Weide- und Ackerland, umgeben von unübersichtlicher Bewaldung. Kundige kennen in diesem wenig erschlossenen Gebiet ganz gewiss Möglichkeiten oder schaffen sie, um fragwürdigen Angelegenheiten, dem ‚Narcotráfico‘ unbemerkt nachzugehen. Narcotráfico heisst wörtlich Drogenhandel, schliesst aber ganz allgemein alle dunklen Geschäfte mit ein. Menschen, Waffen, Drogen, vieles sucht ungestörte Wege über die Grenze.
„Und weisst du, wie es mit dem Narcotráfico hier ist?“
Bo‘olas Blick schweift über den Fluss.
„Mmh, es ist ziemlich ruhig, sehr ruhig.“
„Ja?“
„Sicher. Aber Guatemala ist das Problem. Dort ist es schlimm.“
„Ah?“
„Ja – ja. Aber das Problem sind nicht die Narcos, sondern die Kriminellen. Die Narcos unterstützen dich und helfen dir, aber die Kriminellen, die sind schlecht.“
„Ach ja? … Was meinst du dann eigentlich mit kriminell?“
„Mmh, die arbeiten nicht, die rauben nur …“
„Ah … ahaa … „
„Nur um zu stehlen und zu rauben morden sie …“
Wir schweigen eine Weile. Auch wenn seine Erklärung abwegig klingt, so haben wir doch das Gefühl, dass wir es dabei belassen und dem Verständnis, mit dem man Schurken zu Wohltätern verklärt, jetzt nicht weiter nachgehen wollen. Auch erscheint es uns grob, den gutmütigen Verfechter gewalttätiger Umverteilung überführen zu wollen. Wir fragen ihn daher lieber nach seiner Familie. Ja, einen dreizehnjährigen Sohn habe er.
„Wie heisst er?“
„Abel … Es ist ein biblischer Name.“
„Hier sind die Ch‘ol katholisch?“
„Etwas … sozusagen … gewissermassen.“
„Haben sie noch ihren ursprünglichen Glauben?“
„Ja.“
„Hat er eher mit der Natur zu tun?“
„Nein.“
„Nein?“
„Er ist eher religiös.“
„Ach so.“
„Ja – ja – ja.“
Gleichförmig dröhnt der Aussenborder. Unser Boot gleitet, jetzt wieder in der Flussmitte, den Usumacinta hinunter. Über beiden Ufern die Konturen des Waldes, über dessen Blätterdach lichthungrige Urwaldriesen, meist breitkronige Ceibas, hinausragen. Zur Linken erstreckt sich das Waldland über niedrige Erhebungen.
Wir wenden uns wieder an Bo‘ola, fragen nach Tieren:
„Jaguare, Affen, Tapire, Leguane, Krokodile … Uuh … Ziemlich viele“, sagt er.
„Und die Brüllaffen? Sind die immer hier?“
„Sicher.“
„Ah … Obwohl wir schon seit sechs Wochen hier in der Selva unterwegs sind, haben wir sie nie gesehen … Gehört schon … Aber gesehen … Gestern hier zum erstenmal.“
„Ganz einfach … Hier schützen wir die Affen. Aber dort, nahe bei Bonampak, leben Lacandonen, die mit den weissen Gewändern …“
„Ja, haben wir gesehen.“
„… Die essen die Affen.“
„Essen?“
„Dort gibt es keine mehr. Alle gegessen.“
„Ehrlich?“
Bo‘ola lüftet seine alte Kappe. Er verkneift sich weitere Erklärungen, mit denen er sich um etwas bringen würde, das ihm wichtiger zu sein scheint als Sichtweisen, die die Wirklichkeit kompliziert machen. Und er hat, vermutlich, manches für sich behalten.