Texte Mexiko | Chihuahua, März 2018
Unsere Reiseroute? Mit einem feinen Filzstift zeichnen wir den bisherigen Verlauf auf unsere Amerika-Postkarte, beschwören Landschaften entlang der Strecke und ein fernes Ziel. Die Unterhaltung entwickelt die angenehme Wärme, die sich einstellt wenn man Vorstellungen teilt. Soviel Reiselust. Leinen kappen. Sofort selbst losfahren.
Das Gespräch verlagert sich ins Auto. Mann und Kinder drängen sich im Eingang, die Frau wartet draussen. Ob sie seine Träume teilt bleibt unklar. Als Familie in einem Reisemobil? Eher nicht. Sie beobachtet ihn. Vielleicht ist ihr der spontane Überschwang ungeheuer. Eine bislang unbemerkte Passion ihres Mannes womöglich. Befremdlich. Oder es ist ihr unangenehm, sich im Augenblick Gedanken zu machen und das Erreichte zu Hause in Frage zu stellen. Zumindest nicht jetzt. Wie dem auch sei, es wäre besser, das Feuer würde nicht geschürt. Sie sagt jedenfalls kein Wort, während Tochter und Sohn das Auto am liebsten sofort wieder verlassen würden, erschrocken von der plötzlichen Aufforderung des Vaters, per Schulenglisch zu überbrücken, was wir auf Spanisch nicht ausdrücken können. Vergeblich, wie sich zur Enttäuschung des Vaters herausstellt. Wir bleiben beim Spanisch.
Aber für Gastfreundschaft sind fehlende Wörter kein Hindernis. Er überreicht uns kurzerhand seine Karte mit Namen: „Gustavo ab jetzt“, und Telefonnummer: „Für den Fall dass Ihr mal Hilfe braucht.“ Das Fahrzeug unterstellen während eines Heimataufenthalts in Deutschland? „Überhaupt kein Problem, die Garagen sind gross und Ihr seid jederzeit herzlich Willkommen“, woraufhin er sein Haus auch zu unserem erklärt. Wir sind beeindruckt. Das ist Willkommenskultur. Echte Gastfreundschaft bringt uns eben als Freunde zusammen, und nicht als Anbieter und Kunde gegen Bezahlung. „Klar doch!“, sagt er völlig unbekümmert.
Aus der Miene seiner Frau lesen wir leise Zustimmung, so leise allerdings, dass wir gleich versichern, seine Angebote nur im äussersten Notfall in Anspruch nehmen zu wollen. Der Sohn will wissen ob man auf Englisch ‚Welcome‘ sagt für Willkommen. Und Gustavo: „Was haltet Ihr davon? Ihr könntet doch morgen zum Essen zu uns nach Hause kommen.“
„Na ja … Also … Aber wir wollen Eure Pläne fürs Wochenende auf keinen Fall durcheinander bringen“, sagen wir vorsichtig, als müssten wir Gustavo an übersehene Vorhaben oder gar eine Abstimmung mit seiner Frau erinnern. Aber beides ist nicht die Frage. Die kommt erst noch. Zusammenhanglos wie aus dem Nichts. Die offenbar alles entscheidende Frage:
„Und welcher Religion gehört Ihr an?“
Wir haben schon davon gehört wie wichtig Religion im Alltag vieler Menschen in Mexiko ist. Es ist nach Brasilien das Land mit den meisten Katholiken weltweit. Um die 80% der Bevölkerung sollen es sein.
„Wir gehören keiner Religion an“, sagen wir im Plauderton und ahnen das Gewicht der Antwort. Ein kurzer Moment des Zögerns, Gustavo kratzt sich am Kinn, ein rascher Blick zu seiner Frau, geweitete Pupillen, dann versinkt er in einen abrupten, verwirrenden Abschied und es ist ihm offenbar unwohl dabei.
„War schön, Sie kennenzulernen.“
Es liegt etwas Merkwürdiges in diesem Rückzieher. Ahnungslos haben wir Bilder und Träume und wohltuende Romantik geteilt und an nichts anderes gedacht. Und im nächsten Moment diese unüberbrückbare Kluft.
„Es liegt nicht in unseren Händen“, sagt er schliesslich, „Manche entdecken die Religion erst, wenn sie die Leere bemerken“, murmelt „Ich will für euch beten“, und nickt uns zu während sie unversehens davonstolpern. Unmöglich, sie nicht zu enttäuschen oder etwas zu erklären. Hoffnungslos. Diese tiefe, verstörende Angst vor den ANDEREN.
„Aber man kann das nicht verallgemeinern“, erinnert mich eine umsichtige Stimme während ich ins Dunkel starre.