Texte Mexiko | Creel, Sierra Tarahumara, April 2018
Tage später in Creel. Wir wollen uns erkundigen. Einheimische kennen die momentanen Bedingungen in den Schluchten sicher am besten. Im offenen Eingang eines niedrigen Holzgebäudes, das so ungefähr die Pionierarchitektur der frühen Siedler nachahmt, lehnt ein Mann. Er erwidert unsere Blicke.
„Hola! Buenos días!“, rufen wir.
„Tardes! Buenas tardes!“, es sei längst Nachmittag, ruft er zurück, und genehmigt sich ein grosszügiges Lachen.
„Ja, tardes, natürlich, Buenas tardes! Dürfen wir also ihren Nachmittag stören?“
„Ja, ja, kommen sie nur, sie stören nicht.“
Er habe immer Zeit, sich mit jemandem anzufreunden, sagt er, und winkt uns herein.
„Übrigens, ich bin Beto, José-Beto.“
Wir folgen ihm in den rustikalen Innenraum des Hauses. Schmale Sprossenfenster im rohen Gebälk der Aussenwände lassen ein wenig Tageslicht herein. An den dunklen Wänden sind grossformatige Fotografien befestigt. Während die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen tritt die Faszination der grobkörnigen, verblassten Bilder hervor. Sie setzen die schlichte Lebensweise der Tarahumara-Indianer in Szene. Ihre Lebensweise und ihre Mythen. Sonnengott und Mondgöttin, die den Ursprung wie den Lauf dieser Bergwelt seit jeher und immer noch bestimmen. Die düstere Stimmung des Raums, befüllt mit altertümlich verzierten Möbeln und etlichem Kunsthandwerk, Schnitz- und Flechtzeug, in Jahren zusammengetragen und angehäuft, lässt an den Salon eines passionierten Völkerkundlers denken. Ein stattlicher Schreibtisch, Tastatur, Bildschirm und Werbezettel erinnern daran, dass es auch ein Geschäftsraum zur Organisation und Vermittlung von Exkursionen zu landschaftlichen und kulturellen Attraktionen in der Umgebung von Creel ist.
José-Beto bemerkt unser Interesse. Obwohl wir uns nur über die Befahrbarkeit einer Strecke in die Schluchten erkundigen wollen, kommen wir unweigerlich auf die indigenen Tarahumara der umliegenden Bergwelt zu sprechen. Nach wenigen Gesprächsminuten ist klar, dass er zu ihrem Bewunderer und Fürsprecher wird, sobald es um Fragen der richtigen Lebensführung geht.
„Diese Indianer …“, sagt José-Beto, und zeigt auf das Foto einer drahtigen Gestalt, die mit beiden Händen einen Stock festhält, der aussieht wie von Gewächsen umrankt, das eine Ende wie der kahle Kopf eines Fabelwesens, „… Sie sind nicht wie wir.“
„Ja, vermutlich“, sage ich.
José-Beto schweigt, lange genug, um zu verstehen zu geben, dass mehr Neugier erwartet wird.
„Wir haben davon gehört, dass sie für ihr einfaches Leben bekannt sind“.
„Richtig“, sagt er, „darum geht`s, einfach aber nicht unzufrieden. Ihre herkömmliche Art zu leben ist sehr einfach und sehr würdevoll.“
Wir blicken uns an.
„Sind sie arm?“, frage ich.
„Nein, sie haben nur wenig, ich meine …“
„Verstehe, du meinst …“, setze ich ein.
„Ja?“, José-Beto lächelt mit leicht herausgeforderter Miene.
„Du meinst: Was für ein wunderbarer Reichtum – Kein Besitz.“
„So ungefähr, viele begnügen sich mit lediglich einer Handvoll von Gegenständen. Dinge spielen in ihrem Leben so gut wie keine Rolle.“
„Was dann?“
„Ganz einfach: Lebensmut, Lebensfreude, Verbundenheit … Weniger Sachen, mehr Platz zum Sein.“
„Manchmal sehen wir sie betteln.“
„Sie betteln nicht.“
„Nicht?“
„Nein. Sie erwarten von uns nur, was sie selber auch machen. Sie teilen ihre Habe. Wer viel hat, der teilt mit dem, der wenig hat. Teilen ist selbstverständlich für sie. Es ist üblich. Es entspricht ihrer traditionellen Auffassung von Zusammengehörigkeit … So selbstverständlich für uns das Eigentum ist, so selbstverständlich ist für sie das Teilen.“
„Kann sein“, murmle ich und fühle, während José-Beto uns das indigene Leben der Tarahumara erklärt, wie sich mitten im Geflecht meiner Sichtweisen seine Behauptung zu verzweigen beginnt. Ob Eigentum für uns wichtiger ist als das Teilen? Und ob wir lieber Gegenstände anhäufen statt zu teilen? Seit jeher seien die Tarahumara grosse Meister der Genügsamkeit gewesen, höre ich José-Beto sagen.
„Gewesen heisst: Heute nicht mehr?“
„Doch, schon, zum Teil, aber man lässt sie nicht in Ruhe. Ihre angestammten Lebensgrundlagen werden immer mehr zerstört.“
„Warum das?“
„Warum? Weil ihnen … Weil sie sich nicht wehren.“
„Gegen wen denn?“
„Gegen wen? … Gegen alle! Gegen Missionare, die sie bekehren wollen, Politiker, die meinen sie zählen und registrieren zu müssen, und gegen Drogenhändler, die ihnen ihr Land wegnehmen.“
„Es heisst doch, sie kämpfen schon seit Jahrhunderten für ihre Eigenständigkeit.“
„Sie haben sich immer nur zurückgezogen … Zuflucht in Schluchten und Höhlen gesucht, aber keinen Widerstand geleistet.“
„Aber immerhin, es gibt sie noch.“
„Ja.“
Ch.P. – ausgesprochen Chepe – sind die jeweils ersten Buchstaben der Namen Chihuahua und Pacífico. „El Chepe“, der so benannte Personenzug, verbindet das Hochland von Chihuahua mit dem Seehafen Topolobampo am Pazifik. Spätestens seit Fertigstellung des letzten, topografisch schwierigsten Teilstücks der Eisenbahntrasse über die westliche Sierra Madre, das war 1961, ist dieses äusserste, jahrhundertealte Rückzugsgebiet der Tarahumara keine weltabgeschiedene Region mehr. Vier, fünf, sechsmal in der Woche bringt der Chepe Tages- und Rucksacktouristen aus dem Landesinneren oder von der Pazifikküste herauf ins fremdartige Tarahumaraland. Sie interessieren sich für die anrührende, seltsam archaische Natürlichkeit und Schlichtheit der uralten Lebensweise und suchen geheimnisvolles indigenes Wissen. Und sie bestaunen und fotografieren die malerischen Erscheinungen, so oft die Gelegenheit sich bietet. Ein Hauch von Einmaligkeit und Ursprünglichkeit umgibt die Tarahumara-Indianer. Etwa wenn sie sich feierlich bunt, manchmal neon-bunt, vor der Missionskirche San Ignacio einfinden. Deren Missionare haben es trotz ihrer mehr als vierhundertjährigen Bemühungen bis heute nicht geschafft, die Tarahumara davon abzubringen, sich neben dem Zeichen des Kreuzes auch an jene überlieferten Mythen und Rituale zu halten, die ihre Kraft aus der Natur, aus Sonne und Mond schöpfen.
„Viele vertrauen rituellen Heilungen mehr als der Heiligen Jungfrau von Guadalupe“, sagt José-Beto.
Nicht nur zu festlichen Anlässen, auch sonst sieht man Frauen meistens in farbenfrohen, voluminösen Röcken und Blusen mit breiten Volants, Männer mit hellen Lendentüchern, leuchtend farbigen Oberteilen und breiten Stirnbändern.
„Männer scheinen aber eher bereit, traditionelle Kleidung aufzugeben?“
„Manche“, sagt José-Beto.
„Warum? … Halten sie das Herkömmliche für rückständig?“
„Ich weiss nicht … Das hier ist keine Folklore, das ist das Leben.“
„Wie kommen sie zurecht?“
„Sie bleiben sehr unter sich … Sie kommen nicht zu uns, um sich die Zeit zu vertreiben … Sie kommen nur zu uns, wenn sie Sachen brauchen, die sie anders nicht kriegen können. Fremde haben es schwer an sie heranzukommen.“
Als wir später, zu spät um heute noch weiterzufahren, auf die Strasse treten, ruft José-Beto uns durch die offene Tür seiner Agentur hinterher:
„Zuverlässige Auskunft zur Befahrbarkeit der Schluchtenstrecke bekommt ihr übrigens am besten bei Juan Pablo, unten in Batopilas.“