Ist es gefährlich?

Texte Mexiko | Chihuahua, März 2018

Der Umriss Mexikos weckt eine Erinnerung. Ich meine, auch wenn meine Kinderbadehose längst mit dem Altkleidersack verschwunden ist, die Form des Staatsgebiets von Mexiko mit seinem um den Golf von Mexiko gewundenen Südosten, eingerollt wie eine Spirale, erinnert mich an den unteren Teil des Seepferdchens, dass als Abzeichen einer neu erworbenen Freiheit im Schwimmbecken auf meine Badehose aufgenäht war. Weit hergeholt? Andere – Freunde der Spinnentiere zum Beispiel – mag der Umriss vielleicht eher wie der drohend aufgestellte Stachel eines Skorpions vorkommen. Oder wieder Andere – zu geometrischen Assoziationen Neigende – erkennen möglicherweise ein auf seiner gebogenen Spitze stehendes Dreieck. Wie dem auch sei, jeder hat seine eigenen Bilder im Kopf. Die sind zwar immer drastisch vereinfacht, aber zur groben Ortung unseres Grenzübergangs aus den Vereinigten Staaten nach Mexiko, wenn man nur guten Willens ist, doch halbwegs tauglich. Die obere ‚waagrechte‘ Linie des gebogenen Dreiecks, die ‚Gürtellinie‘ des Seepferdchens, bildet nämlich die über 3.000 km lange mexikanisch – US-amerikanische Landgrenze. Sie verläuft von Küste zu Küste, vom Pazifik zum Atlantik.

Der Umriss der Landfläche Mexikos

Und eben in etwa der Mitte dieser Grenzlinie benutzen wir einen Übergang in das südliche Nachbarland, queren das nahezu trocken liegende Flussbett des Rio Grande, folgen einer Art kamera- und blitzlichtgesäumtem Korridor, lassen uns rasch durchwinken, merken im letzten Augenblick, dass was falsch läuft, halten mit ungutem Gefühl wieder an, finden einen tadellos Uniformierten, der mit felsigem Blick die Macht und Unfehlbarkeit seines Landes aufführt, unsere Ausreisemeldung aber doch noch entgegen nimmt, überqueren die hoheitliche Trennlinie, lassen uns auf mexikanischer Seite hierhin und dahin schicken, folgen Anweisungen, stellen uns noch einmal hinten an, erhalten Quittungen, hören das knackende Krachen beim Niederdrücken der Stempel – Schlussakkord gleichmütiger Amtshandlungen.

Staunend, gut gelaunt und schweigsam folgen wir der Landstrasse durch den zentralen Norden Mexikos. Die Chihuahua-Wüste. Es ist Ende Februar. Wolkenlos. Wir fahren südwestwärts. Ein Tuch im Seitenfenster schützt vor der hellgelb gleissenden Mittagssonne. Karge Vegetation. Pflanzen, die das wenige Wasser finden und nutzen. Wir wissen nur von wenigen die Namen. Agaven, Yuccas, die kennt man. Mesquiten. Viel mehr nicht. In höheren Lagen Koniferen. Die Wüste liegt im Regenschatten zweier mächtiger Gebirgszüge. Der östlichen und der westlichen Sierra Madre, dazwischen kleinere Höhenzüge und steinige Ebenen. Ungeheures, staubiges Grasland.

Im zentralen Norden Mexikos
Chihuahua

Am Nachmittag kommen wir in Chihuahua an, scheitern aber mit der Suche nach einem geschützten Platz, auf dem man im Fahrzeug mit gutem Gefühl übernachten könnte. Aber frei stehen schliessen wir im Moment noch aus. Man muss ruhig schlafen können. Wir müssen erst ein Gespür für die Möglichkeiten und Risiken entwickeln.
„Ist es gefährlich?“
Wir fragen Einheimische bei jeder Gelegenheit, aber gewöhnlich winken sie ab:
„Gefährlich? … Na ja … Es kommt halt darauf an, im falschen Moment nicht am falschen Ort zu sein.“
„Falsch? … Was genau soll das heissen, falscher Moment am falschen Ort?“
„Ganz einfach … Manchmal genügen deine Augen, um dich zu beseitigen.“

Wir sind nicht wirklich sicher.

Nicht gerade beruhigend. Also entscheiden wir uns für ein preiswertes Hotel, das erst einmal Schutz und ruhigen Schlaf verspricht.
Irrtum! Die Unterkunft entpuppt sich als lärmige Veranstaltung unermüdlich leiernder Waschmaschinen, kreischender Fernseher und schlaflosem Gelächter. Lärm, der immer wieder von vorn anfängt. Das nervt. Einfach mal Maul halten. Schlafen! Es dauert lange bis es Morgen wird. Der freundliche Blick der Frau am Empfang ist kaum zu ertragen. Nach dieser miserablen Nacht. Hier können wir nicht bleiben. Auf einmal halten wir das mit dem Hotel für eine ohnehin merkwürdige Idee. Eine Überreaktion womöglich. Vielleicht, sagen wir, warum nicht? Warum nicht doch frei stehen? Und wir lassen uns das Geld für die vorausbezahlte zweite Nacht zurückgeben und verlassen fluchtartig entschlossen die unruhige Bleibe.
Raus.

Ist es gefährlich?
Wir sind nicht wirklich sicher.

Wenn man die üblichen Ratschläge befolgt wird es nicht gefährlich sein.