Texte USA | Appalachen, November 2017
Es ist Herbst geworden in Kanada. Und die Tage kürzer. Die Sonne läuft schon im flachen Bogen der Jahreszeit.
Vor uns liegen Landkarten: Nordamerika, Kanada, USA, Mexiko. Blau. Ozeane. Der Atlantik auf der einen, der Pazifik auf der anderen Seite. Küsten. Dazwischen Gebirge, Ebenen, Flussläufe, Landschaften. Erdoberfläche, sorgfältig vermessen, in Flächen und Linien und Zeichen verwandelt, vereinfacht, auf Papier eingeebnet und gefalzt.
Vor dem Grenzübergang in die Vereinigten Staaten planen wir, folgen Linien, Farben und Mustern, prüfen Möglichkeiten und besprechen alternative Routen. Wenn man es in dieser Stimmung betrachtet – einer versonnenen Aufbruchstimmung – werden Landkarten zu harmlosen Spielfeldern und das Reisen zur Fortbewegung über bunte Erlebnisfelder. Zweidimensional. Überschaubar selbst das Entlegenste und Unzugänglichste.
Wir waren innerhalb von zwei Monaten vom atlantischen Osten Kanadas ein gutes Stück ins Innere des Kontinents ‘vorgerückt’. Entlang einer breiten blauen Linie, dem St.-Lorenz-Strom, in den grün schraffierten, aber dicht besiedelten Süden der Provinz Ontario. Grosse Städte haben wir gemieden, ausgenommen Montreal und Toronto. Ontario wird im Süden durch einige hellblaue Flächen begrenzt, von den Grossen Seen. Dazwischen eine gewundene Verbindung, der Niagara-Fluss, und ein Querstrich für eine Kante, die Fälle.
Wir beschliessen ab hier den Weg nach Süden einzuschlagen, durch die östlichen der Vereingten Staaten und weiter in den tiefen Süden und an den Golf von Mexiko. Wir beschliessen, uns vom Winter nicht einholen zu lassen.
Nachdem wir Kanada verlassen haben steuern wir im Osten der USA auf die Appalachen zu. Die Idee einer Fahrt auf den Kämmen dieses Gebirgszugs lässt uns vom direkten Weg nach Süden abkommen und die verlockendere Route nehmen. Eine Strasse über uralte Berge, eines der ältesten Gebirge überhaupt und älter als der Atlantik sogar, haben Geologen herausgefunden. Mit Gesteins-Verwandten in Afrika, aus einer Zeit als der Urkontinent noch nicht zerrissen und seine Teile noch nicht auseinandergedriftet waren. Wir überqueren verwitterte Bergrücken, gealtert zu sanft gerundeten Kämmen und Kuppen, vorbei an zersprungenen Felsbrocken in einsamen Wäldern, vom täglich kälter werdenden Herbstlicht noch gelb und rot durchflutet – Indian Summer.
Schwarzbären gibt es. “Jedoch gehen fast alle Begegnungen mit Bären harmlos aus.” Meine Gefährtin und ich sehen uns an. Schweigend. Aber mit derselben Frage im Gesicht: Fast? Was genau muss man sich unter ‘fast’ vorstellen? Meistens? Normalerweise? Aber es scheint ja üblich, sich den Wald hier gleichberechtigt mit Bären zu teilen. Na gut, wir gehen los. Die anfängliche Unruhe legt sich bald. Aus Wachsamkeit wird eine Art beruhigter Aufmerksamkeit, bis auch die Aufmerksamkeit langsam ermüdet. Es sind ja doch immer nur Wurzelstöcke oder dunkle Felsbrocken mit runden Rücken, aufgerichteten Ohren manchmal oder Nasen, die gebückt durchs Unterholz zu streifen scheinen oder lauernd verharren bis wir vorbei sind. “Hat sich’s bewegt?” “Nee, glaub nicht.”
Bis einige Tage später, längst nicht mehr erwartet, in einem Moment als meine Konzentration auf anderes gerichtet ist, plötzlich einer durch Unterholz bricht – und als eilig trabender Schatten einen felsigen Hang vor uns hinauf hastet. Ebenso überrascht wie wir, weniger erschrocken vielleicht. Und enttäuschend rasch verschwunden im Dickicht. Schnell ist er und scheu, dieser Zottelpelz. Er läuft davon, legt keinen Wert auf eine Begegnung, um sich zumindest ein wenig betrachten zu lassen. Erleichterung auch. Er ist sich seiner Überlegenheit offenbar nicht bewusst. Jedenfalls, solange es mit dieser Art gegenseitigen Respekts abläuft, hoffen wir auf häufigere und weniger flüchtige Begegnungen. Fast ist ja normalerweise meistens.