Texte USA | Appalachen, November 2017
’Nur ein Automobil gewährt Ihnen vollkommene Befriedigung.’
In der Zeit des grossen wirtschaftlichen Einbruchs ab Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts bot sich mit dem Bau von Strassen eine Möglichkeit, die Ärmel hochkrempeln zu lassen. Herausgekommen ist dabei eine Ferienstrasse für Autofahrer.
Man hat sie zudem mit zwei weiteren Panoramastrassen verbunden. So entstanden nach und nach: Skyline Drive im Shenandoah-Nationalpark + Blue Ridge Parkway + Great Smoky Mountains Parkway. Lückenlos. Durchgängig rund Tausend! Kilometer Asphaltband, dass aussieht als sei es in ausgelassener Stimmung auf die Berge geworfen worden. Es geht auf und ab, mal mehr, mal weniger steil. Gewunden. Zu Bögen und Schleifen, launischen Wellen und anderen Spielereien geformt, ohne einen Gedanken daran, jemanden möglichst rasch an ein Ziel zu bringen.
Wir sind zufrieden. Lange, gemächliche Landstrassen, die den Wald nicht verlassen. Nur hin und wieder begegnen wir Anderen. So spät im Jahr. Umso eindrücklicher lässt die Strecke die Leere des herbstlichen Gebirges spüren. Bald werden Schnee und Eis die Strasse unbefahrbar machen.
Auch Wanderer treffen wir nicht oft. Selbst der Appalachian Trail, einer der grossen Bekannten unter den Fernwanderwegen, sieht nicht aus als bekäme er jeden Tag ‘Füsse zu Gesicht’. Wir haben ausgetretenere Pfade erwartet. Untersuchungen haben ergeben, heisst es, dass sich die meisten Besucher nicht mehr als neunzig Meter von ihren Autos entfernen. Neunzig Meter nur. Was ist bloss geworden aus dem ehemals unbändigen Pioniergeist und kühnen Aufbrüchen in die neue Welt?
Erste Frostnächte auf den Kämmen des Gebirges erinnern uns an die üblichen, plötzlichen Wetterstürze im Norden und Osten der USA. Im Spätherbst absehbar. Immer wenn der Winter uns einzuholen droht, beeilen wir uns wieder ein Stück südwärts zu kommen und die Berge hinter uns zu bringen. Aber wieviel Eile ist überhaupt nötig?
“Weiter?”
“Ja … Weiter!”
“Nach Westen! …”
“N’nee … Lieber nach Süden!”
“Süden?”
Wir haben eine Meinungsverschiedenheit über die Richtung unseres Weiterwegs. Das heisst, ob wir uns nach unserem Weg über die Appalachen noch einen weiteren Umweg leisten.
“Wir wollen uns vom Winter doch nicht einholen lassen … Wir!”
“Ja … Schon.” Ich überlege: Süden bedeutet von hier, am Ende des Gebirges, endlich den ersehnten, direkten Weg in die Wärme einzuschlagen. Und, klar, der Süden lockt mit New Orleans und dem Golf von Mexiko. Jetzt! Aber – Die westliche Route bedeutet Nashville, Memphis und das Mississippi-Delta. Legendäre Orte, die für faszinierende Wurzeln und Zweige von US-Musik stehen. Schwarze und Weisse, Blues, Country, Rock ‘n’ Roll, …
“Es ist eigentlich kein Umweg … Es würde uns kaum Zeit kosten und dann genauso nach Süden führen”, sage ich.
“Städte … Du weisst doch …”
“… ? …”
“… Ich hab’ erst mal genug davon …”
“… ? …”
“Hörst du überhaupt zu?”
“Wieso? … New Orleans ist auch eine Stadt.”
“… New Orleans ist was anderes… Die eine würde mir reichen.”
“Wie? Was soll das heissen? Reichen …”
“Fahr mich nicht so an!”
“Willst du’s nicht verstehen? … Nashville und Memphis … Das ist Musik!”
“New Orleans auch.”
“Also … Was meinst du?”
“Wieso fragst du? … Meine Meinung ist doch völlig egal.”
“Ach komm … Ich denke halt … Es ist eben wichtig … Verstehst du?”
Wir verstehen beide was wir meinen, sind aber immer noch unterschiedlicher Meinung. Schweigsam beginnen wir die Aussichtslosigkeit einer Einigung einzusehen. Als wir zwei Tage später auf die Verzweigung der Strasse zufahren, haben wir uns entschlossen, die Wetterbedingungen entscheiden zu lassen. Die Vorhersage ist gut. Erst einmal, dann wird man weitersehen. Einverstanden. Wir fahren westwärts.