Texte Zurück nach Unterwegs | Kellerwerkstatt, Frühjahr 2017
Mein Interesse, merke ich, wendet sich ohnehin wieder dem Werkstattradio zu. Es ist schon lange auf denselben Sender eingestellt. Irgendeinen. Zu lange immer denselben. Vieles höre ich täglich wieder, stündlich wieder, das meiste geht unter im Muster der beharrlich dahin laufenden, nie müde werdenden Informationsroutine. Ich merke, die atemlose Berichterstattung im Format von sechzig Sekunden, bestenfalls drei Minuten, langweilt mich jeden Tag mehr. Nur selten lässt ein ungewohntes Stichwort oder eine fragwürdig erscheinende Bemerkung mich aufhorchen. Ich unterbreche dann manchmal was ich gerade tue, lehne mich an die Werkbank, oder wie jetzt, halte mich, zur Weiterarbeit bereit, am Bandschleifer fest und beginne hinzuhören.
Irgendwer berichtet, in dieser oder jener aus der Ordnung geratenen Kriegs- und Krisenprovinz sei die seit langem vereinbarte, und freilich von Beginn an wirkungslose Waffenruhe erneut und wiederholt brüchig. Die Konfliktparteien gäben sich gegenseitig die Schuld. Der Ton verschärfe sich. Man drohe hin und zurück mit Vergeltung. Beunruhigt blicke die Welt in die schwelende Region und in der Hauptstadt bringe man eine tiefe Besorgnis zum Ausdruck. Schon sei ein Korrespondent vor Ort geeilt, bis zur umstrittenen, von Strassenblockaden, Stacheldraht und brennenden Fässern durchzogenen Linie vorgedrungen, per Telefon zugeschaltet, um uns Meldungen aus erster Hand zuteil werden zu lassen. Können Sie uns hören? Er grüsst verantwortungsbewusst aus meinem verstaubten Lautsprecher. Mit satter Stimme formuliert er seine heutige Sicht der Dinge. Zu beklagen sei die erneute und die insgesamt hohe Zahl an Waffenstillstandsverletzungen, damit könne die brüchige Waffenruhe vor dem endgültigen Aus stehen, sei leichtfertig an die Wand gefahren. Jüngst habe in diesem Zusammenhang selbst der ansonsten moderate Unterhändler einer, ‘Spezielle Vermittlergruppe’ genannten, eigens entsandten Delegation, in ungewöhnlich harscher Form von unfassbaren Äusserungen und krimineller Niedertracht gesprochen. Mit verbrecherischen Taten sei die einmalige Chance zunichte gemacht worden. Man bedauere das nunmehr drohende, kaum noch abzuwendende Scheitern der Friedensbemühungen.
Mich beunruhigt, was ich höre: Reviergeschrei. Machthunger. Herrschsucht. Verlautbarungen, die ablenken. Den Gegner zum Feind zu machen? Ich übergehe die unfriedliche Einladung. Und nein, ich habe auch keine Lust auf Empörung, auch nicht auf Anteilnahme an irgendwelchen absurd festgefahrenen Feindseligkeiten – trotz der Fragen, die sich aufdrängen.
Leidenschaftlich, aufgebracht, aber natürlich nur andeutungsweise, und unbeirrbar und voller Kraft erklärt die Stimme vor Ort weiter, man sehe darin eine Verletzung von Resolutionen sowie eine Provokation. Die Beobachter der vereinten Friedensmission – dem Vernehmen nach erst vor wenigen Tagen von betrunkenen Milizionären beschossen – seien seit Monaten an der Nase herumgeführt worden, und die vom weltpolitischen Gegner unterstützten Separatisten – Hinweise lieferten Analytiker – die Separatisten seien bloss Marionetten.
Marionetten? Kann sein, aber eben mit eigenem Hass und eigener Rauflust. Und musste er dafür vor Ort eilen? Der Griff des Schleifers in meiner Hand erinnert mich an die Arbeit, die möglichst stufenlose Rundung der Oberfläche vor Augen, die die Furnierplatte erhalten soll. Die angeschliffenen Schichtenlinien müssen gleichförmig wie Höhenlinien auf einer topografischen Karte aus den kreuzweise verleimten Holzlagen hervortreten. Perfektionismus! behaupten manche. Macht nichts, Geduld! denke ich. Jetzt keine unaufmerksame Bewegung mit dem Schleifer. Keine Unebenheiten. Nur keine Unebenheiten.
Die Stimme lässt jetzt wissen, Konfliktforscher seien der Ansicht, die Ursache der Misere liege in mangelnder Kooperation begründet. Notwendig seien vertrauens- und sicherheitsbildende Massnahmen, und es sei zu hoffen, das bald eine Einigung über die Voraussetzungen herbeigeführt werden könne, um über die nächsten Schritte zur Wiederaufnahme der Friedensgespräche zu beraten … Überdruss durchläuft meine Gedanken … Und angesichts der verfahrenen Situation sei die entscheidende Frage … Ich schalte den Bandschleifer ein – überlege noch einen Moment, was für eine Frage das sein könnte, die sich stellt, dann vergeht alles im anschwellenden Rauschen der Maschine.
Ich merke, es wird Zeit: Fortkommen, das Alarmgeschrei, am besten alle Nachrichtenpanik und nervöse Berichterstattung weit hinter uns zurück und verrauschen lassen und die Welt jenseits der Nachrichten erleben.