Texte Kanada | Nova Sotia, September 2017
Der Gebirgszug der Appalachen erstreckt sich von den südlichen der Vereinigten Staaten bis in den Osten Kanadas, fast zweieinhalb Tausend Kilometer. In einem Faltblatt für Touristen steht, diese Berggegend sei weltbekannt für die Vielfalt ihrer Pflanzen- und Tierwelt, auch die Schönheit der uralten Berge, und nicht zuletzt für seine überaus gastfreundlichen Menschen.
Und ausserhalb der Prospekte? Da schreibt man den Bewohnern dieser Gegenden gerne noch etwas anderes zu. Wie man Leuten in abgelegenen Landstrichen auch anderswo oft nachsagt, habe sich die ländliche Einsamkeit auf ihr Wesen niedergeschlagen, seien sie provinziell in ihrer Denkweise, hielten fest an alten Gewohnheiten, und sähen in vergangenen Zeiten ihre Zukunft, irgendwie rückständig.
Im Südwesten von Nova Scotia, nahe der letzten Ausläufer der kanadischen Appalachen begegnen wir Tom, erst in einem Naturkostladen, später zufällig nocheinmal auf dem Parkplatz eines Supermarkts. Tom, wie geschaffen, Klischees zu bedienen.
“Hillbilly … Klar, n’ Hillbilly bin ich. Die Leute denken dabei an ‘nen Hinterwäldler … Das bin ich …”, stellt Tom fest, bereit über sich und seine Erscheinung ein wenig zu lachen, “… den Leuten werden eben immer gern Etiketten angeheftet.”
“Wahrscheinlich”, pflichte ich bei.
Er sagt: “Als Hillbilly muss man den Begriff selber benutzen.”
Das wundert mich etwas: “Und wieso? …”, hake ich nach, “… Ich meine es ist normalerweise herabsetzend gemeint … Oder?”
“Um ihm seine beleidigende Kraft zu nehmen”, erklärt Tom.
Ich überlege: Will er das Spottwort etwa ummünzen, den Spöttern gewissermassen wegnehmen, und dem Begriff trotzige Würde verleihen? Jedenfalls klingt es, als wolle er Widerspruch oder zumindest Aufmerksamkeit erzeugen. Ich gehe darauf ein: “Ist nicht einer wie der andere? Ist Hillbilly nicht gleich Hillbilly?”
Tom hebt die Hände: “Nein …!… Es fehlt das entscheidende Wort: ‘Richtig’. Es ist eine Frage der richtigen! Lebensführung. Der wahre Hillbilly achtet die Weisheit der Ahnen … Und Tugenden … Heute sind die Tugenden vergessen … Ihr wisst es … Und die Aussichten sind düster und verworren …”. Er verkündet es mit erhobener Stimme, als müsse er sowohl sich selbst als auch eine Zuhörerschaft vor der Kanzel dazu anhalten, sich beim Herrn nicht unbeliebt zu machen. “… Wir müssen zurück zu besseren Zeiten!” Beiläufig, ohne die Aufmerksamkeit von seinen Ausführungen zu lenken, knackt er die feinen Glieder eines Krebses, puhlt geduldig spärliche Fasern heraus und steckt sie in den Mund. Offenbar ohne die Absicht, davon jemals satt warden zu wollen, denke ich. Er wirkt für den Augenblick zufrieden.
Auch Tom’s äussere Erscheinung zeugt von Verbundenheit mit Damaligem. Um sein Kinn weht ein lichter weisser Chincurtain. Wie ein altertümlicher Vorhang umrahmt er einen verschmitzt würdevollen Gesichtsausdruck. Die Taschen seiner weiten Latzhose sind gefüllt mit griffbereitem Schreibzeug, Notizpapier, Briefumschlägen, Prospekt- und Weerbematerial unterschiedlicher Herkunft. Ein Flanellhemd in der rustikalen Art von Kleidung für Landarbeiter, in schwarzen und weissen Karos gewebt, umspannt seinen fülligen Oberkörper. Die Schirmmütze der Organic-Farmer-Initiative ruft auf zur Umkehr, hin zu echtem Bauerntum: ‘Lasst Farmer wachsen!’ Wir warden neugierig, wollen mehr erfahren, laden Tom in unsere Butze zum Abendessen ein.
Er sagt: “Gut wär doch, natürlich nur wenn ihr wollt, mit eurem Auto hinter’m Haus bei mir im Hof zu stehen … Ich meine, ihr hättet da ‘nen ruhigen Platz für die Nacht.” Er hat Recht, Nächte auf Supermarkt-Parkplätzen sind selten ruhig. Also fahren wir zu Tom.