Radikaler Wandel

Texte El Salvador | Ende Dezember 2023

Die Vorstellung, durch El Salvador zu reisen, war beunruhigend. Das Land war vor Jahrzehnten Schritt um Schritt aus den Fugen geraten. Furchtbare Gewalt und Kriminalität bestimmten den Alltag. Nachdem wir in alle Richtungen Überlegungen angestellt hatten, entwickelten die Umstände sich unvermutet. Der Staat schien die Kontrolle über Ordnung und Sicherheit wiedererlangt zu haben. Kurz nach unserer Einreise gegen Ende 2023 können wir die Situation allerdings noch nicht einschätzen. Wir bleiben vorsichtig.

Die Cordillera de Apaneca im westlichen El Salvador ist eine Reihe miteinander verbundener Vulkane. Von der Flanke des Cerro Verde aus haben wir einen überwältigenden einmaligen Blick auf das zweitausend Meter unter uns liegende Küstenland und den fernen, im Dunst
flimmernden Pazifik. Die Bewölkung hat sich zum Abend hin mehr und mehr verdichtet. Für Momente sind wir umgeben von grauer Wolkenmasse, um kurz darauf die Konturen der Vulkane am Horizont wieder erscheinen zu sehen.

Stellplatz am Vulkan Cerro Verde, El Salvador

Das Land habe sich sehr verändert, heisst es. Vom gewalttätigsten Land der Welt zur Hoffnung Lateinamerikas, gar zum Hort von neuen Ideen und Aufbruchstimmung. Wie das? Ein junger, entschlossener Präsident mit Sympathiebonus beginnt im Jahr 2022, ungefähr in der Mitte seiner Amtszeit, eine ungewöhnliche Geschichte. Eine Geschichte, zugleich umstritten für manche Beobachter, aber verteidigt von fast allen Einheimischen mit denen wir uns darüber unterhalten haben.

Hort von neuen Ideen und Aufbruchstimmung, Biblioteca Nacional de El Salvador
„El Salvador war ein gewalttätiges Land, jetzt ist es ein sicheres Land!“

Morgen ist einer jener Tage im Jahr, an denen der gesamte Naturpark um den Cerro Verde für Besucher geschlossen ist. Wir wollen bleiben. Obwohl die Regeln hier oben ausnahmslos etwas anderes vorschreiben. Trotzdem. Mit “gewagter Höflichkeit” fragen wir nach einer Erlaubnis. Unsere Frage löst ein langes Hin und Her zwischen Ablehnung und Einwilligung aus. Mal heisst es wir dürfen bleiben, mal müssen wir raus. Und bekommen am Ende doch eine Genehmigung. Wir dürfen bleiben. Wirklich: Gewagte Höflichkeit ist Zweifeln an der Unmöglichkeit!

Soldaten sammeln sich neben unserem Stellplatz am Cerro Verde. Dienstschluss. Sie warten auf den Transport hinunter in die Stadt. Nachdem das Geräusch des Militärlasters verklungen ist sind wir allein.

Der junge, charismatische Präsident heisst übrigens Nayib Bukele. Er hat sich selbst einmal als den “coolsten Diktator der Welt” bezeichnet. Mit der Mehrheit im Parlament sorgt er für einen andauernden Ausnahmezustand, Militär und Polizei sorgen für massenhafte Verhaftungen von Verdächtigen. Viele davon ohne weiteres auszumachen an Tattoos, Symbolen der Bandenzugehörigkeit, betonen sie. Gegner der Vorgehensweise widersprechen. Sie beklagen es sei Missbrauch der Menschenrechte im Ausnahmezustand. Mutmassliche Täter würden ohne ordentliche Verfahren inhaftiert, die Festnahme Unschuldiger als angemessene Begleiterscheinung in Kauf genommen. Klingt so, als wenn das im Sinne des Landes hinzunehmen wäre. Ist es aber nicht, sagen die Kritiker.
Wir stossen einmal mehr an unsere Grenzen, an die festen Überzeugungen unserer Herkunft.

Das Dilemma: Auf der einen Seite unliebsame aber vielleicht unvermeidbare Massnahmen, auf der anderen Seite allgemeine Werte, Menschenrechte und Demokratie. So unfassbar nahe beieinander sind Dafür- und Dagegenhalten. Wir zögern. Es ist ausserhalb unserer Vorstellungskraft, was es bedeutet, jahrzehntelang Todesangst durchlitten zu haben. Zweifellos ist mit schmerzlichen Erinnerungen die Bereitschaft für radikale Maßnahmen gross. In dieser Landschaft, auf die wir im Sonnenuntergang nachdenklich hinunterblicken, war der gewaltsame Tod und die Angst immer gegenwärtig, und ist es im Empfinden und Entscheiden bis heute. So schieben die meisten unsere Bedenken schlicht beiseite. Manche meinen gar: “Lieber eine Diktatur als eine hoffnungslose Demokratie, in der alle Lebensträume endgültig sterben und in der man jeden Augenblick ein grausames Ende nehmen kann”.

Mit dem Sonnenuntergang tut sich zwischen Wolkendecke und Horizont ein schmaler Streifen auf. Er wird die rote Strahlung jeden Moment freigeben. Das ist der Augenblick auf den wir gehofft haben. Die Kamera ist bereit.

Info:
Seit dem 1. Juni 2019 ist Nayib Bukele Präsident El Salvadors. Bukele ist für sein hartes Vorgehen gegen die Kriminalität und seinen autoritären Kurs bekannt. Er wurde am 4. Februar 2024 mit rund 83 % der Stimmen erneut für fünf Jahre gewählt.