Texte Kolumbien | Medellin, Februar 2025
Der Cauca ist ein Fluss. Folgt man ihm aus dem karibischen Küstentiefland südwärts, so führt einen die Nationalstrasse 25 in einen tiefen Einschnitt zwischen die Ausläufer von Gebirgszügen.
Der steile Anstieg in die Anden liegt vor uns. Die Landschaft entlang der Strasse ändert sich. Es wird enger. Wasser fliesst die Hänge herab. Die Luft wird kühler. Beim kleinen Ort Puerto Valdivia wechselt die Strasse zum gegenüberliegenden Ufer, um sich über eng liegende Höhenlinien rasch aufwärts zu winden. Lastzüge quälen sich hinauf, schwerfällig, kaum in der Lage die nächste Steigung noch zu bewältigen. Jeder zweite hat Container geladen.
Die Nationalstrasse 25 verbindet die Häfen der kolumbianischen Karibikküste mit den Hochtälern der zentralen Kordillere. Wir erreichen Medellín, die “Hauptstadt der Berge”, nach drei Fahrtagen.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich Medellín enorm gewandelt. Aus einer Stadt der Aussichtslosigkeit wurde ein Ort, verkünden Stadtentwickler, der für Fortschritt, Hoffnung und Möglichkeiten steht, und ergänzen stolz, das habe der Stadt sogar internationale Anerkennung verschafft. Wir sind neugierig und möchten mehr darüber wissen.
Gleich am Anfang stossen wir auf eine Besonderheit. Seilbahnen gehören seit zwanzig Jahren zum Netz der öffentlichen Verkehrsmittel Medellín’s. Wir steigen ein. Die Linie K bringt uns ins steil am Berghang gelegene Santo Domingo.
Bis Ende des 20. Jahrhunderts galt das Viertel als äusserst gefährlich. Noch im Jahr 2003 war es verboten, sich nach siebzehn Uhr auf der Strasse aufzuhalten. Das Viertel ist den Hang hinaufgewachsen. Haus für Haus rote Ziegelsteine, Wellplatten, Betonpfosten, durchzogen von einem endlosen Netz aus Treppen. Und dazwischen findet sich noch eine gewundene Asphaltspur. Wir suchen den Schatten in einer Gasse zwischen Kirche und Sporthalle. Die Steinbank an der Kirchenwand ist besser als nichts und das milchige Rinnsal davor riecht vor allem nur nach Seife. Am linken Ende der Bank sitzt jemand. Ja, frei, antwortet er. Wir setzen uns.
Nach kurzem Schweigen kommen wir ins Gespräch. Er sei in Santo Domingo geboren und aufgewachsen, sagt Cristian, das Viertel sei seine Heimat. Ob der Wandel Medellín’s hier oben auch spürbar sei, fragen wir. Das schon, die Seilbahn, Gesundheitsversorgung, Bildung. Manches schon. Und anderes? Na ja, der Staat. Der Staat?
Über Jahrzehnte herrschte in Kolumbien und besonders auch in Medellín ein unüberschaubares Gemenge aus grausamer, skrupelloser Drogenkriminalität, willkürlichem Blutvergiessen um politische Vorherrschaft und der schlichten Hoffnung am Leben zu bleiben. Nach Beginn der 2000er-Jahre wurde der offene Kampf von staatlichen Kräften endlich niedergeschlagen, die Menschen wagten sich wieder auf die Strasse.
Heute sorgen Combos für Sicherheit, sagt Cristian und erkennt sofort, dass wir nicht verstehen was er damit meint. In Kolumbien bezieht der Begriff Combos sich oft auf Gruppen oder Banden, die mit kriminellen Aktivitäten in Verbindung stehen, ergänzt er. Kriminelle Banden sorgen für Sicherheit? Und was macht die Polizei? Die gibt Beschwerden oder Hilferufe an die Combos weiter. Wirklich? Klar, ein Anruf bei der Polizei landet am Ende immer bei den Combos. Die klären den Fall dann auf ihre Weise. Wir versuchen einzuwenden: Wäre es nicht besser, die Polizei … Er winkt ab. Das Viertel bestimmt seine Sicht der Dinge.
Mühsam schiebt ein Lieferwagen sich durch unsere Gasse. Seine Reifen rollen eine Spur milchigen Wassers vor unseren Füssen aus. Für einen Moment ist die Hitze der Abgase zu spüren. Wir verzögern die Atmung bis die Schwaden aus Gas und Russ sich gelegt haben.
Ein Wandgemälde gegenüber von unserem steinernen Sitzplatz erstreckt sich über die gesamte Länge der Mauer. Es stellt den bewaffneten Konflikt dar, der die Gemeinde schwer heimsuchte, erklärt Cristian. Das Bild soll, wie unzählige andere Bilder an den Wänden und Mauern Medellín’s, den Opfern eine Stimme geben und die Erinnerung wach halten, sagt er. Wem eine Stimme gegeben wird, der fühlt sich gehört und einbezogen. Leider verabschiedet sich Cristian bald.
Enorm soll er sein, der Wandel. Welchen Eindruck nehmen wir mit aus den zweieinhalb Wochen unserer Anwesenheit im Getriebe der Stadt? Vielleicht den: Da ist wohl was dran, wenn es heisst, Medellín‘s Stadtplanung habe in den letzten zwei Jahrzehnten kluge Schritte getan und sich erstaunlich entwickelt.
Dennoch bleibt eine Lücke zwischen einer anfälligen Hoffnung und solidem Vertrauen. Es ist verständlich, dass trotz der positiven Veränderungen noch viel Skepsis besteht. Vertrauen braucht Zeit, um zu wachsen, besonders in einer Stadt, die dermassen viel Gewalt und Korruption hinter sich hat, und in der etliches davon vermutlich bis heute festsitzt.