Immer schön vorsichtig

Texte Indien 2 | Neyyar Dam, Kerala, März 2011

Es ist der zehnte Tag unseres „Rückzugs“.
Wir haben uns für den Aufenthalt im Ashram entschieden, um die Welt des Yogas von allen Seiten kennen zu lernen. Eben nicht bloss den rein sportlichen Aspekt – die Haltungen heissen ‘Kuhkopf’ oder ‘Halbe Heuschrecke’ oder ‘Gas entfernende Stellung’ – sondern Yoga als Lebensweise in seiner ursprünglichen Form. Traditionell ganzheitlich werden Glieder, Gelenke, Gedanken und Gefühle gedehnt, geformt und gefordert – Körper, Geist und Seele.
Bald spürt man allerdings, der ungeübte Körper ist mit den Jahren bequemer und unbeweglicher geworden. Wie die meisten Teilnehmer halten wir uns die Entscheidung über Bleiben oder Gehen von Tag zu Tag offen. Solange es geht wollen wir uns der neuen Erfahrung aussetzen und beobachten was passiert.
Morgen jedenfalls wollen wir mal noch bleiben.

Was ist ein Ashram?
Ein klosterähnliches Zentrum, ein Ort der Anstrengung, an dem man Körper und Geist trainiert, strikte Disziplin übt und lernt, die Traditionen zu achten und die Meinung des Gurus zu ehren.
Das Willkommens-Faltblatt verspricht:
„Der Ashram dient dem Rückzug von den Anforderungen des weltlichen Lebens. Er ist ein Ort des Friedens und des Schutzes vor dem Druck des Alltags. Er bietet einen sicheren Raum für persönliche Entwicklung und die Verfolgung spiritueller Ideale.“

Zur spirituellen Lebensführung gehören strenge Regeln. Man legt uns nahe, die Vorschriften ernst zu nehmen:
„Die Teilnahme an allen Veranstaltungen wird erwartet.“ Zur Sicherstellung werden Anwesenheitslisten geführt. Die Teilnehmer werden numeriert, wir mit 19 und 20. Ein Smiley für’s Dasein, ein Smiley mit nur einem Auge für’s Zu-spät-kommen und ohne Augen bei unentschuldigtem Fehlen.
„Zum Verlassen des Geländes ist ein Ausgangsschein erforderlich.“ Es gibt kein heimliches Entkommen.
„Alkohol, Drogen, Tabak, Fleisch, Fisch, Eier, Zwiebeln und Knoblauch sind nicht erlaubt … Sex ebenfalls nicht.“ Ob sie Bewegungsmelder installiert haben?

Die Messingglocken gliedern den Tagesablauf. Sie haben vor zehn Minuten zur gemeinsamen, abendlichen Meditation, zum Singen und Beten und zur Belehrung in die grosse Halle gerufen. Erwartungsvoll hocken wir in der Dunkelheit, obwohl nichts zu erwarten ist, was wir nicht schon kennen würden. Der Ablauf ist immer der gleiche, zwei Stunden jeden Morgen und jeden Abend.
Pünktlich tritt der Leiter des Ashrams auf. Zielstrebig nimmt er die rot lackierten Stufen auf die, in geheimnisvolles Licht getauchte, Altar-Bühne. Ein „Westler“, hagere Gestalt, in den Vierzigern, gelbes T-Shirt mit spirituellem Aufdruck „Einheit in Vielfalt“, das knöchellange, frisch gebügelte Tuch eng um die Hüften gewickelt, wie zum Saunagang. Sein Gesicht wirkt bleich. Vorspringendes Kinn. Scharf geschnittene Nase. Die tief liegenden Augen hinter der glasigen Brille scheinen unentschlossen zwischen Teilnahme und Teilnahmslosigkeit. In die asketischen Züge hat sich eine Spur von Tragik und Bitterkeit eingegraben. Die grau melierte, uneigenwillige Frisur stets ordentlich, jedes einzelne Haar gewohnt, sich als Teil eines gewissenhaften Ganzen zu verstehen. Kurz gesagt verkörpert er das Gegenbild zum seligen Guru mit wallender Mähne und ausuferndem Bart. Ihm liegt vielmehr die Rolle des aufgeräumten Direktors.

Die Bühne ist voller Statuen hinduistischer Götter und Gurus. Sie ist zugleich Altarraum und Ort, sich zu zeigen und die Versammlung anzuleiten. Die Rückwand verkleidet ein samtroter Vorhang. Davor die vergoldete Skulptur Shivas, vielarmig, inmitten eines Flammenkreises. Der Herr des kosmischen Tanzes vollführt seine wilden Bewegungen im Licht einer flackernden Kerze.
Der Direktor geht vor ihm auf die Knie und verharrt einige Augenblicke, den Oberkörper ganz nach vorn gebeugt. In vollkommener Ergebenheit berührt er mit der Stirn den Boden. Dann nimmt er seinen Platz auf der Strohmatte ein, überkreuzt die Beine in den Schneidersitz, rückt am Mikrofon und beginnt die Anwesenden auf die Meditation einzustimmen:
„OOOOOOOHMMMMMMM“, getragene, lang ausschwingende OM’s füllen die Halle, leiser und leiser werdend, bis am Ende nur noch das Summen der
Ventilatoren und der durstigen Moskitos zu hören ist … dzzziiiiiiizziiiiiziii …
Durch die weiten Bögen auf beiden Seiten der Halle strömt Abendluft, vom Nieselregen gereinigt und gekühlt. Sie erinnert an das tropische Hügelland am südlichen Ende des grossen, indischen Dreiecks, in dem der Ashram verborgen liegt. Oben, über den Bergen zuckt Wetterleuchten durch die schwarzen Wolken. Es riecht nach Wald und Wasser.
„Haltet die Augen geschlossen … fahrt fort, in Gedanken das Mantra OM zu wiederholen … wiederholt es mit dem Atem … beim Ausatmen … beim Einatmen…“, hören wir die Stimme von der Bühne flüstern.
Die Weihrauch-Kräutermischung auf glühender Kohle, die eifrig in der Halle herum getragen wird, räuchert derweil die Atmosphäre.
„… vollständig ausatmen … tief einatmen … ausatmen …“
… dzzziiiiiiizziiiiiziii … die in den Tücken der Meditation Erfahreneren haben sich vorsorglich mit Mückenschutz eingesprüht, die anderen werden es schwer haben … dzzziiiiiiizziiiiiziii …
„… nehmt eine angenehme Haltung ein … für die nächsten dreissig Minuten … haltet den Körper in vollkommener Ruhe … die Augen geschlossen … den Rücken gerade …“

In der indischen Tradition ist der Aufenthalt im Ashram erst im dritten Lebensstadium vorgesehen – bevor man sich im vierten und letzten Stadium den Themen Sterben und Tod widmet. Die dritte Phase ist die Zeit des verdienten Rückzugs. Die Waldeinsamkeit dient der Entwicklung von Körper und Geist. Die meisten modernen Pilger der Spiritualität haben den überlieferten Gedanken aufgegriffen und die Umsetzung kurzerhand in ihre erste Lebensphase vorverlegt. Sie sind überwiegend Menschen aus dem Westen, zwischen zwanzig und dreissig und offen für mystisches Gedankengut.
„… haltet eure Augen geschlossen … wenn Gedanken aufkommen … lasst sie kommen … lasst sie gehen …“
Und die lästigen Moskitos …
„… lasst sie kommen … lasst sie gehen … entspannt …“
… was veranlasst sie zu existieren?
“Erinnert euch daran, dass alle Lebewesen ihre Daseinsberechtigung haben. Das gilt auch für Stechmücken. Tötet bitte keine Moskitos auf dem Gelände des Ashrams“.
Wir geben uns alle Mühe.

Seit dem zweiten Tag tragen fast alle die praktische Trinkwassserflasche aus der Ashram-Boutique ständig mit sich. Immerhin bilden Wasser und Luft die eine Hälfte einer gesunden Ernährung – was östlich–indische Weisheit immer schon wusste! Die andere Hälfte wird dem Körper zwei mal täglich im Ess-Saal des Ashrams zugeführt – vegetarisch, nahrhaft und ausgewogen – traditionell keralische, vegetarische Diät.
„… entspannt … zwingt euch nicht … wenn Gedanken kommen …“
Bei jeder Zusammenkunft besingen wir unsere Liebe zu den Göttern:
HARE RAAMA HARE RAAMA RAAMA RAAMA HARE HARE
HARE KRISHNA HARE KRISHNA KRISHNA KRISHNA HARE HARE
”Das hilft dem Geist, sich auf das Göttliche auszurichten. Es lässt uns zu Werkzeugen werden und beseitigt das unreine, ruhelose Ich. Göttliche Führung ist notwendig, um religiöse Übung gelingen zu lassen“, erklärt der Direktor.
Jeden Nachmittag werden Belehrungen zur Philosophie des Yoga gegeben:
“Die Wahrheit kann nur empfangen, wer seine Sinne in das Transzendente richtet und den Intellekt abschaltet.“ So sind Argumente und Diskussionen nur Zeichen mangelnden Vertrauens und ungenügender Reife und letztlich des rauen und immer noch weiten Weges zur Erkenntnis dieser einzigartigen Wahrheit. Die Zusammenkunft mit dem Lehrer wird zur Zusammenkunft mit der einen Wahrheit.
„… haltet eure Augen geschlossen … entspannt …“
“Unser Dasein wird gesteuert von einer höheren Macht. Alles hängt ab von ihr. Sie allein bestimmt unsere Existenz“, offenbart uns der Direktor und geniesst den Triumph der wahren Erkenntnis:
“Was können wir steuern? Nichts! Nichts können wir bestimmen!“
Und weil niemand daran zu zweifeln scheint, wirft er der versammelten Schar seine Erkenntnis wie eine Herausforderung vor die unbewegten Füsse:
“Was können wir kontrollieren? Nichts können wir kontrollieren!“
Nicole’s beunruhigter Geist greift zum Mikrofon:
“Da kann ich nicht zustimmen. Ich finde, dass bei solchen Behauptungen das Risiko besteht, den Menschen die Verantwortung abzunehmen. Ich denke sehr wohl, dass man etwas steuern kann. Beispielsweise beeinflussen wir durch Yoga unsere Gesundheit oder durch unser Umweltverhalten die Natur. Wenn man selbst nichts steuern kann, besteht die Gefahr, auf die höhere Macht zu verweisen, die es schon richten wird. Man entzieht sich zu leicht der Verantwortung.“
Der Direktor ist irritiert. Rasch versucht er, die Herausforderung wieder aufzuheben, als sei sie aus Versehen auf den Boden gefallen. Er antwortet, wie man antwortet, um es aus dem Weg zu haben:
“Ich möchte nicht sagen, dass es falsch ist. Ich möchte nur betonen, dass es eine höhere Macht gibt, die unsere Existenz bestimmt.“
Seine Worte meiden die Verständigung – gewiss und schicksalsergeben.
Wir beginnen zu verstehen.
Mit fortschreitender spiritueller Entwicklung geht das individuelle Selbst, wie ein Tropfen Wasser, auf im universellen Ozean. So nähern wir uns unweigerlich dem Zustand absoluter Seligkeit, der Geist verlässt schliesslich den Körper.
Das beunruhigt uns.

„OOOOOOOHMMMMMMM …“, getragene, lang ausschwingende OM’s überlagern die schweifenden Gedanken.
„… langsam … langsam … in die Wirklichkeit zurückkehren …“, flüstert die Stimme von der Strohmatte auf der Bühne.
Die tropische Luft streicht geklärt durch die grosse Halle. Der Weihrauch-Kräutermischung-auf-glühender-Kohle-Nebel hat sich gelegt.
Wir haben plötzlich das starke Bedürfnis, nicht von unserem Intellekt befreit zu werden. Wir ziehen es vielmehr vor, uns auf den eher körperlichen Aspekt des Yogas zu konzentrieren. Yoga europäisch genügt unseren Vorstellungen vollkommen.
Um die spirituelle Gastfreundschaft nicht über Gebühr zu beanspruchen, werden wir unseren Rückzug doch morgen schon aufgeben.
Immer schön vorsichtig … mit der Spiritualität.

RAAMA RAAMA RAAMA RAAMA RAAMA
RAAMA RAAMA RAAMA RAAMA RAAMA
SHREE RAAMA RAAMA RAAMA JAI JAI RAAMA
RAAMA RAAMA RAAMA RAAMA RAAMA
RAAMA RAAMA SITAA RAAMA