Vater des Vaterlandes

Texte Türkei 3 | Gelibolu, Türkei, Februar 2013

Im erhabenen Staat lebte vor geraumer Zeit ein Mann, der es zu erheblichem Ansehen gebracht hatte. Es gab keinen, der von seinem mächtigen Durchsetzungswillen und seinem Nationalstolz nicht angetan gewesen wäre. Schon zu seinen Lebzeiten verlieh man ihm den warmherzigen Titel Atatürk, Vater der Türken. Sein eigentlicher Name jedoch war Mustafa Kemal Pascha. Bald nach seinem, vom Anisschnaps beförderten, Ableben erachtete man es für notwendig, die allgemeine Verehrung zu regeln. Eigens wurde das Gesetz Nr. 5816 erlassen:

Wer das Andenken an Atatürk öffentlich beschimpft oder beleidigt, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu drei Jahren bestraft.

Mustafa Kemal Atatürk

Doch eines Tages, vor nicht allzu langer Zeit, standen sich Andenken und historische Begebenheit Auge in Auge gegenüber. Einst nämlich rettete die junge Ehefrau ihrem Mustafa das Leben. Als Putschisten das Haus umstellt hatten, so die Erzählung, war dem Vater der Türken, mit dem Einfallsreichtum den Not und Eile verleihen, die Flucht gelungen – In ein dunkles Frauengewand gehüllt! – Während Latife, seine mutige Frau zurückblieb und sich selbst in höchste Gefahr brachte. Sie täuschte die Belagerer, indem sie sich mit hohem Fellhut verkleidet als ihren Mann ausgab, bis die Aufständischen in ihrer Ahnungslosigkeit von der Leibgarde schliesslich überwältigt wurden.

Mrs. Atatürk - Latife Hanim

Die, gerne der Vergessenheit überlassene, Episode wurde in einer Lebensbeschreibung, die sich endlich einmal der wenig beachteten Latife widmet, vor Kurzem in Erinnerung gebracht. Hier nun hob ein hitziges Gezeter an. Manchen war die Schilderung der Begebenheit unangenehm. Energisch, wie es Fragen der Ehre verlangen, brachten sie alle erdenklichen Klagen vor. Auch befanden sie, die Geschichte stehe mit dem wahrhaft Männlichen nicht im Einklang, sei geradezu weibisch. Man verurteilte die unerwünschte Erinnerung an den Zwischenfall. Nicht so die herbeigerufene Gerichtsbarkeit. Die Rechtsgelehrten vertraten eine andere Auffassung. Nach ihrem Dafürhalten stellt die unliebsame Überlieferung keine Herabsetzung des Andenkens dar. Die Schelte wurde zurückgewiesen. Da nickten die Leute und gingen beruhigt ihrer Wege. Und so kam das Andenken wieder einmal ziemlich unbehelligt davon.