Was jetzt ?

Texte Türkei 1 | Şile am Schwarzen Meer, Mai 2010

Şile am Schwarzen Meer, etwa eine Autostunde östlich von Istanbul gelegen.
Der Mann mit der dunklen Brille hat uns angesprochen. Auf Englisch. Sein kleines Lebensmittelgeschäft bietet ein auffallend großes Sortiment an Alkohol und Zigaretten. Ob sich das mit seinem strengen Glauben vereinbaren lasse, wollen wir wissen. Seiner Antwort geht ein demonstratives Lachen voraus, wie um zu beweisen, dass er sich hier von niemandem Vorschriften machen lasse: „Ich glaube an keine Götter und Propheten, weder islamische, christliche, buddhistische oder sonst irgendwelche.“
Wir blicken gespannt in die dunklen Brillengläser. Er fährt fort: „Ich glaube an die Natur, die Natur gibt uns alle Antworten. Meine Überzeugungen sind Humanismus und Aufklärung.“
In seiner Haltung und seinen offenen Worten ist die tiefe Verbundenheit zu Atatürk, dem „Vater der Türken“, zu erkennen, der wir immer wieder begegnen.
Der Mann mit der dunklen Brille zitiert den staatlich ernannten Vater: „Der Politiker, der zum Regieren die Hilfe der Religion braucht, ist nichts anderes als ein Schwachkopf“ und er führt beide Hände zu seinem Herz, um seine Achtung zu zeigen: „Wir lieben Atatürk. Er hat die Türkei selbstständig gemacht und modernisiert. Alle verehren Atatürk.“
Und wirklich, Atatürk ist allgegenwärtig: Auf Bildern, Postern, sämtlichen Geldscheinen und allem, was sich sonst bedrucken und bemalen lässt.
Und auch Statuen und Büsten scheinen nur das eine Motiv zu kennen – ER sitzt an seinem Schreibtisch und unterzeichnet wichtige politische Dokumente, ER wirkt sehr nachdenklich beim Abwägen der nächsten Schritte seiner Reformpolitik, ER geniesst in würdiger Haltung seine militärischen Erfolge. In der Tat, die Unbeirrbarkeit im Handeln Atatürks ist faszinierend. Wir nehmen uns vor, bei nächster Gelegenheit eine brauchbare Biografie über Mustafa Kemal Atatürk zu beschaffen.
Den Mann mit der dunklen Brille freut unser geduldiges Interesse. Weil das seines Erachtens eine Anerkennung verdient, überreicht er uns spontan zwei der Devotionalien aus seinem Fundus. Eine großformatige Fotokopie der „charismatischen“ Unterschrift und eine Fotokopie des heroischen Porträts mit den Geburts- und Sterbedaten Atatürks in der Bildunterschrift. Und auf einmal wird auch uns die Unsterblichkeit des Türkenvaters sichtbar. Die Acht des Sterbejahres 1938 ist waagrecht gelegt dargestellt und wird damit zum Unendlich-Zeichen ∞ – sehr schön.

Themenwechsel. Nicole krempelt ihr linkes Hosenbein hoch. In den letzten beiden Tagen hat sie ihr Hosenbein schon öfters hochgekrempelt, so hoch, dass man am Oberschenkel die frische Bisswunde sieht. Das ist aber sogar für den humanistisch bekehrten Mann mit der dunklen Brille zuviel Weltlichkeit. Eilig greift er seine Brille von der Nase, reibt sich die tränenden Augen ausgiebig mit dem Taschentuch – irgendein Augenleiden erklärt er entschuldigend. Er ruft rasch seine Frau zur Begutachtung der Verletzung.
Betroffen prüft sie den blau und grün verfärbten Oberschenkel.
Völlig unerwartet hat vorgestern ein „Köter“ beim Vorbeigehen Nicole von hinten ins Bein gebissen. Die Eckzähne des – vielleicht sagen wir doch eher „Drecksköters“ haben blutrote Löcher in die Haut gequetscht. Der Biss lässt den Oberschenkel bedenklich anschwellen. Schmerzen.
Wir sind erschrocken und im ersten Moment so schockiert wie ratlos. Gerademal einen Monat unterwegs und schon so was.
Infektion? Tollwut? Arzt? Was jetzt?
Wieder diese Hilfsbereitschaft.
Wir wenden uns an drei Männer, die gerade ihr abendliches Picknick auf einem Betonvorsprung über dem Strand geniessen. Einer zückt sein Handy aus der Gürteltasche und telefoniert unnachgiebig nach dem „Köterbesitzer“. Ein halbes Dutzend Leute steht bald um uns herum, der „Köterbesitzer“ gelangweilt dabei. Er würde das Ganze wohl lieber ignorieren. Wir können den Fall verständlich machen, dem Palaver ansonsten aber kaum folgen. Immerhin wird ein Impfbuch herumgereicht, das eine aktuelle Tollwutimpfung des beisswütigen Viechs ausweist. Das bedeutet für Nicole zumindest ersteinmal Entwarnung. Mit einem lapidaren „I am sorry“ zieht sich der „Köterbesitzer“ wenig später teilnahmslos zurück. Irgendwie steigt aus der Situation am Ende aber doch ein Gefühl von Hilflosigkeit und Wut in uns auf.
Polizei? Anzeige wäre gut.
Wir gesellen uns zum „Türkentrio“ auf dem Betonvorsprung und werden am rustikalen Picknick beteiligt. Mangels gemeinsamer Sprache bewegt sich die Kommunikation auf dem Niveau der ersten unsicheren Worte von Kleinkindern. Tröstlich sind das Einbezogenwerden und die Anteilnahme dennoch.
Kurz vor Sonnenuntergang erscheint ein Mann zum Schwimmen, schmales Gesicht, grauer Bart und Strohhut. Ein „Psikolog“ wie wir verschwörerisch unter der Hand mitgeteilt bekommen. Aha! Ein Fachkundiger für Verständnis und Mitgefühl also. Man bietet den Psychologen, in der Erwartung eines hilfreichen Urteils, die Bisswunde zu begutachten. Der sieht sich die Verletzung kurz an, lacht bühnenreif heraus und zieht kopfschüttelnd weiter.
Irritiert teilen wir die letzte Dose Bier mit dem Trio.

Das war vorgestern. Heute sind wir, wie oben schon erwähnt, in einem kleinen Lebensmittelgeschäft. Der Mann setzt seine dunkle Brille wieder auf.
Ob er uns zum Arzt bringen soll, fragt er. In Anbetracht der Verletzung sei das doch zu empfehlen. Nicole möchte nach Möglichkeit darauf verzichten. Unverständlich, meint er, sei auch das seltsame Verhalten des Hundebesitzers. Das ein offenbar unberechenbarer Hund frei herumlaufe sei das eine, dass der Besitzer nach dem Unfall so unverantwortlich damit umgehe umso schlimmer. Ein bekanntes Problem in der Gegend. Unzählige Hunde streunen in Banden oder einzeln überall herum. Aus Sorge begleiten manche Eltern ihre Kinder deshalb sogar auf dem Schulweg.
Ob die Polizei wirklich hilfreich sei, da ist er nicht so sicher.
Die regionale Zeitung habe sicherlich großes Interesse an der Sache – bestimmt.
Aber die Schmerzen und den Schock könne man damit natürlich auch nicht ungeschehen machen. Wohl aber das Risiko solcher Vorfälle verringern, indem man auf Missstände immer wieder unbeirrbar aufmerksam mache, anstatt unverschämtes Herunterspielen oder Übergehen stillschweigend zuzulassen.
Wir kaufen beim Mann mit der dunklen Brille „Magnung GOLD“, erweitern beim Verabschieden unseren aktiven Wortschatz um ein holpriges „Tanistigimiza memnun oldum“ (über unser Kennenlernen bin ich sehr erfreut) und schlendern, die schmale, gepflasterte Strasse hinunter.
Ironie des Schicksals: In die kleine Strasse biegt ein Polizeiwagen ein, der Polizist winkt uns fröhlich zu, man kennt sich schliesslich, es ist der „Köterbesitzer“.


Mehr über Türkei 1