Gaurav [Teil 2 - Deutsch]

Texte Nepal 1 | Kathmandu, August 2011

Nicole:
Über welche Themen würdest du am liebsten schreiben?

Gaurav:
Welche Themen?
OK, mein Schreiben hat eigentlich kaum mit Kultur oder mit Besonderheiten irgendeiner Kultur zu tun. Ja natürlich, Kultur ist ein Teil aber es ist nicht der Hauptteil. Was mich fasziniert ist hauptsächlich das Thema des Seins. Für mich ist es das Wichtigste – Was bedeutet es zu sein? Es ist ein bisschen philosophisch. An der Uni habe ich nicht Literatur studiert. Ich habe eine Zeit lang Philosophie studiert, etwas aber nicht ganz. Aber ich mag dieses Genre von philosophischem Schreiben.
Ich will zum Beispiel nicht die kulturellen Probleme zeigen. Aber irgendwie ist es für mich sehr wichtig, zu zeigen was es bedeutet zu Sein.
Ja, und deswegen mag ich den surrealistischen, absurden Stil.
Für mich ist der Surrealismus der Weg, der mich fasziniert.

Nicole:
Wann hast du deine Leidenschaft für das Schreiben entdeckt? Wann hast du begonnen zu schreiben?

Gaurav:
Eigentlich habe ich es oft versucht.
Aber entdeckt, kann ich sagen, als ich deutsch gelernt habe. Ich war in Puna.
Und vorher auch. Ich war an der Uni in Amerika und habe damals Sprachwissenschaft studiert. Es hat ein bisschen mit Philologie zu tun, der Geschichte der Sprachen. Aber auch zum Beispiel … kognitive … also ich weiss es nicht … Noam Chomsky. Was bedeutet die Sprache im Gehirn. So ein bisschen psychologische Sprachwissenschaft.
Aber das ist eigentlich sehr langweilig, weil es zu wissenschaftlich war. Das Gehirn wird mit diesen Diagrammen gezeigt und alles.
Und ich habe so einen Literaturkurs dort besucht. Und ich habe Camus gelesen und vieles von Kafka. Ein Freund von mir mag Kafka sehr. Und ich habe ein bisschen Kafka gelesen und ich habe ihn sehr gut gefunden. Es gefällt mir einfach.
Und damals in Puna habe ich auch Nietzsche und Schopenhauer gelesen. Und … ja irgendwie … Schopenhauer war gut, aber Nietzsche war viel besser. Also irgendwie, ja … ich fühlte mich sehr angesprochen von seinem Schreiben. Ich hatte dieses Buch auf Englisch – ‚Jenseits von Gut und Böse’ – als ich achtzehn Jahre alt war, und ich habe mich sehr dafür interessiert.
Und dann musste ich weg.
Weil die Universität in den USA so viel kostet, dass ich zurück musste.
Und ich habe gedacht: OK, was mache ich? Was tue ich in der Zwischenzeit? Ich habe ganz frei und ich muss etwas tun.’
Und ich habe gedacht: OK, ich kann Deutsch lernen. Weil ich mich für Philosophie interessiert habe und das hilft, wenn ich Nietzsche lesen will oder Schopenhauer.
Und dann habe ich mit dem Deutsch lernen angefangen. Und da habe ich wirklich … eigentlich war Kafka die Inspiration … er entspricht meinen eigenen Gefühlen so sehr, er beschreibt meine eigenen Gefühle so gut … ja irgendwie war sein Stil so besonders für mich. Er ist philosophisch, aber er ist kein richtiger Philosoph. Er ist ein Schriftsteller – und ein wirklicher Schriftsteller.
So war Kafka die Ermutigung oder die Inspiration.
Und dann habe ich angefangen.
Eigentlich wurde die erste Erzählung, die ich geschrieben habe, letztes Jahr veröffentlicht. Aber ich habe sie vor acht Jahren geschrieben. Angefangen – ich habe sie mehr und mehr geändert und wieder geändert und wieder Änderungen und viele, viele, viele Änderungen.

Nicole:
Wie denkst du, dass die vielen Ortswechsel in deinem Leben, dein Schreiben beeinflusst haben?

Gaurav:
Hmm – Ortswechsel?
Mein Schreiben hat nicht so viel mit Orten zu tun in dem Sinn von besonderen. Aber natürlich, ich glaube, dass Delhi mein Schreiben mehr als irgendeine andere Stadt beeinflusst hat. Es sind vielleicht die Szenen, auch wenn ich Delhi nie genannt habe, den Namen nie benutzt habe. Irgendwie sind es in meinem eigenen Gehirn die Strassen, die Gassen, meine eigene Stadt. Obwohl ich irgendwo anders gelebt habe. Ich denke nicht so sehr an andere Städte. Es ist vielleicht ironisch, aber für mich ist es besonders.
Der Ortswechsel ist selbst eine surrealistische Erfahrung.
Weil man eine Minute da ist und dann nicht da. Und das hat auch mit Sein zu tun. Er ist da – Sein – und dann nicht länger da sein. Und dann muss man ein ganz anderes Leben führen.
Zum Beispiel diese Sammlung von Kurzgeschichten oder Erzählungen. Der Charakter ist fast ich – er ist nicht ich – aber er befindet sich in Situationen, in denen man nicht weiss, ob es verschiedene Orte sind oder gleiche. Weil im Gehirn, wenn man träumt zum Beispiel, die Orte gemischt sind. Es gibt keine Grenzen. Die sind nur politisch und geographisch. Aber in der Vorstellungskraft sind sie gemischt.
Leute von diesen Orten … das ist vielleicht wie es mich beeinflusst hat …
Es gibt einen Charakter, der weggehen muss. Er befindet sich in – ich sage nie Amerika, aber es ist Amerika – und eine Frau kümmert sich um diesen Charakter. Und am Ende, als jemand zu dieser Frau kommt, wissen wir nicht ob wir in Indien sind oder ob wir in Amerika sind. So ist es in meinem Gehirn irgendwie gemischt. Es gibt keine saubere Grenze … das war dort.
Es gibt eine Menge schwarzer Löcher in unserer Erfahrung. Wo du reist und überall bist. Und in deinem Kopf träumst du von so vielen Orten und Menschen von verschiedenen Orten, die sich im Traum begegnen … und das beeinflusst. Ich denke, das Reisen selbst beeinflusst mich persönlich genug, um irgendwie verloren zu sein.
Und ‚verloren sein’ selbst ist etwas surreal.
Weil du nirgendwo bist – auf eine Art bedrohlich dieses ‚nirgendwo’, weißt du. (lacht)
Es hat ein wenig von … ja, ich denke so ist es offensichtlich.

Nicole:
Und wer sind deine grössten literarischen Vorbilder?

Gaurav:
Hmm, Kafka habe ich schon gesagt.
Tatsächlich ist es so, dass …
Ich muss jetzt Englisch sprechen. Ich denke Deutsch ist dafür zu gebildet für mich. (lacht)
Eigentlich ist es wirklich komisch, weil ich, wie ich gesagt habe, von den Amerikanern beeinflusst wurde, ich meine von den Amerikanern und Kafka.
Und dann war ich sehr interessiert an bestimmten europäischen Kunstrichtungen. Zum Beispiel den ‚Expressionisten’. Ja, ich mochte sogar die Maler. Ich mochte alle diese Künstler, wie … wie ist sein Name?
‚Der Blaue Reiter’, wie diese Schule und wie … (überlegt)

Roland:
Franz Marc …

Gaurav:
Ja, ja er … und wie Max Beckmann.
Irgendetwas wie ‚Die Nacht’. Ihr wisst, diese ganze Verzerrung, sehr expressiv sogar beim Abbilden der Landschaft und der Stadt.
Sogar Kandinsky bis zu einem gewissen Grad, aber er ist weniger gegenständlich, aber ich mag es. Und das habe ich auch bei Kafka gesehen. Es ist eine ähnliche Schule.
Und es gibt natürlich einen sehr expressionistischen Schriftsteller – Döblin. Ich mag einige seiner Geschichten.
Und ein Fantasy-Expressionist mit dem Namen Gustav Meyrink aus Prag. Aber er ist nicht so bekannt wie Kafka – ein Zeitgenosse von Kafka.
Und dann, wisst ihr … fühlte ich mich immer etwas wie ausgeschlossen von guter Literatur.
Weil ich sie nicht finden konnte. Wenn man in Indien in Buchhandlungen geht, sehe ich, dass, was am häufigsten verkauft wird, alles kulturelle Probleme betont. Und ich sage nicht, dass Literatur das nicht behandeln darf, aber es ist etwas, was mich nicht so sehr fasziniert hat.
Ich war mehr interessiert an Camus zum Beispiel. Camus, er ist ein guter Schriftsteller.
Aber erst vor kurzem habe ich entdeckt, dass es eine riesige unabhängige Literaturszene in Amerika gibt, bei der ich finde, dort könnte ich auch ein paar meiner Texte veröffentlichen. Und ich fand einige wirklich faszinierende Schriftsteller, die nicht so bekannt sind.
Wie dieser eine Typ, sein Name ist Matvei Yankelevich. Er schrieb dieses Buch mit dem Titel ‘Boris by the Sea’. Das sind absurde Gedichte, aber er erfasst es wirklich. Ich meine, es ist ein wirklich kleines, dünnes Buch. Er erfasst es wirklich.
Und es erscheint mir, weißt Du, als muss Kunst oder Schreiben … Kunst muss etwas Neues schaffen.
Du weisst, selbst wenn du etwas magst, was alt ist, kannst du es nicht … Wenn du dasselbe sagst, verliert es seine Kraft.
Ich meine, selbst wenn du innerhalb dieses Stils schreibst oder sogar innerhalb dieses Milieus. Wenn du innerhalb dieses Milieus schreibst, solltest du es weiter entwickeln, du solltest weiter gehen als die Tradition. Wie jeder grosse Schriftsteller es getan hat. Er wurde durch die Vergangenheit beeinflusst. Und wenn er es durch die Vergangenheit nicht wurde, würde er nicht einmal schreiben. Aber er ist verbunden mit der Vergangenheit indem er etwas Neues schafft.
Wenn ich also Leute wie Matvei betrachte, er ist eindeutig durch die russische Avantgarde beeinflusst. Er ist russischer Abstammung, aber die Amerikaner sagen, es sei russische Literatur. Aber er hat etwas geschaffen, dass vollkommen neu ist.
Erst kürzlich habe ich einen Schriftsteller entdeckt, der ebenfalls komplett verloren gegangen ist. David Ohle, der den Roman ‘Motorman’ geschrieben hat. Bezüglich der Sprache ist er sehr experimentell. Er ergreift dich. Normalerweise, typischerweise mag ich Science Fiction nicht. Aber es ist überwältigend wie er dich ergreift. Ich finde, er ist besser als Orwell oder jede andere Person, die über Dystopie geschrieben hat – wegen der Sprache. Er ist in der Lage dich zu packen und er war so menschlich. Es ist nicht so, dass seine Emotionen sehr menschlich sind, er ist sehr menschlich. Aber es handelt trotzdem in einer anderen Welt. Es gibt zwei, drei Sonnen. Ich meine, es ist eine total andere, konstruierte Welt.
So ja.
Ich mag Märchen, ich mag Erfindungen, ich mag nicht zu viel Wirklichkeit. (lacht)
Wir haben genug davon … egal … ja.
So ist es. Ich mag alles was seltsam ist.