Pianomann

Texte Kanada | Halifax, August 2017

Wann begann die Reise? Und wo? Als wir aufgebrochen sind, unser Auto zur Verschiffung zu bringen? Als wir hergeflogen sind? Oder wird sie erst beginnen wenn unser Auto auch hier sein wird?
Am 24. August 2017 jedenfalls – knapp drei Wochen nachdem wir von zuhause aufgebrochen waren – ging unser Flug von Frankfurt nach Halifax an der kanadischen Ostküste. Wir flogen mit der Nachmittagssonne. Sieben Stunden lang. Am frühen Abend waren wir da, und später am Abend im ruhigeren Southend von Halifax. Hier haben wir uns für eine Woche eine airbnb-Unterkunft reserviert. Eine mexikanisch-bolivianische Studenten-WG bietet das Zimmer an, um die Miete der geräumigen Wohnung im Universitätsviertel tragen zu können. Die Tage bis die Atlantic Sun, einer der Frachter, die Europa wöchentlich mit Nordamerika verbinden, mit unserem Fahrzeug ankommt, spüren wir dem Leben in Halifax nach. Es sind freundliche, spätsommerliche Tage.

Downtown Halifax
Downtown Halifax

Ecke Spring Garden Road, Grafton Street. Dass hier jemand Piano spielt. Eine Seltsamkeit in Downtown Halifax, wo sonst alles so aufgeräumt wirkt, geordnet und endgültig. Auf einem alten Piano, im Park, im Freien, unter einem Baum, überragt von einer gebeugt aber energisch voranschreitenden Gestalt, dem Denkmal Sir Winston Churchill‘s.

Überragt von Sir Winston Churchill

Is it raining?
Please cover me!
hat jemand auf das Piano geschrieben.

Der Pianomann neigt sich tief über die Tasten. Ohne seinen Blick abzuwenden – trotz der in Abständen an seinem versunkenen Spiel vorbeilärmenden Stadtbusse, und der Passanten, die verstohlen herschauen und weitergehen – hat er ohne Unterbrechung weitergemacht, eine halbe Stunde, eine Stunde vielleicht. Sein Repertoire scheint unerschöpflich. Nur selten bleibt einer für einen Augenblick stehen oder setzt sich auf eine leere Bank.

Nimmt er die gelegentlichen Zuhörer war? Könnte Publikum überhaupt ein Grund für sein Tun sein? Oder spielt er sowieso und allein nur für sich? Zumindest ist kein Zeichen der Aufforderung auszumachen, keine Münzen, die andeuten würden, er wäre dankbar für einen kleinen Obulus. Unter der abgewetzten, zurückgeschlagenen Plane hat das Outdoor Piano bestimmt schon eine Menge Regentage und –wochen erlebt und überstanden, wohl auch Schnee und Frost. Allein im Fussbereich ist das rotbraune Furnier ein wenig aufgewölbt, und vom Regen aufgewirbelte Erde und Sand sind daran haften geblieben.
„Jemand hat sich um das Instrument gekümmert…“, sagt der Pianomann unvermittelt und wendet sich aus der Versenkung, „ … Jemand muss die Tasten gereinigt haben … Vor ein paar Tagen waren sie noch klebrig.“ Er streichelt die weiss und schwarz glänzenden Tasten: „Ich liebe das Instrument.“ Voll Anerkennung, nein, voller Hingebung erfühlt er die Sinnlichkeit der gerade und gebogen vor ihm ausgebreiteten Tastenkörper.

Klebrig? Wir versuchen darauf hinzuweisen, dass das Piano andauernd im Freien steht und die salzhaltige Luft des nahen Atlantiks ja immerhin …
Er lacht, wird ernst und starrt uns an: „Chemtrails …“, sagt er unerwartet, „ … das sind die verfluchten Chemtrails.“ Ob wir verstehen was er meine? Tun wir nicht. Es sei ernst und gehe um mehr als klebrige Tasten: „Seltsame Zeichen am Himmel!“ Ob wir nicht wissen was sich da oben wirklich abspielt? Wir können der unerwarteten Wendung tatsächlich schwer folgen. Der Zorn Gottes oder so? „Nein …“, eindringlich widerspricht er: „Gedankenkontrolle!“. Er steht auf, „Warum in aller Welt sollten sie sonst sprühen?“ Ohne eine Antwort zu erwarten erklärt er nun: „Gefährliche Kondensstreifen … Sie lassen es aus Flugzeugen auf uns niederregnen … Hochdosierte Chemikalien, die uns unter Drogen setzen … Unser Bewusstsein verändern!“ Und der Pianomann beginnt uns von seiner Sicht der Dinge zu erzählen. Es ist die Geschichte eines leidenschaftlichen Skeptikers, der sich einer unübersichtlichen, rücksichtslosen Welt nicht widerspruchslos anpassen mag. Unser Gespräch endet damit, dass wir uns gegenseitig vorstellen. Sein Name ist Pierre. Er stammt ursprünglich aus Gaspésie. „Gaspé“, sagt er, „Gaspé bedeutet in der Sprache der dortigen Micmac-Indianer `Ende der Welt`“, aber jetzt sei er Traveller.

Pierre

Zum Abschied winkt er, sein Gesicht strahlt. Pierre wendet sich seiner Tastatur wieder zu und versinkt im nächsten Moment, unerreichbar für klebrige Substanzen und Gedankenkontrolle, in den Tiefen seiner wunderbaren Klangwelt.

>> … they´ve been coming to see
to forget about live for a while <<
Piano Man, Billy Joel